Etwa Ende des Kapitalismus?

Die Grenzen des Wachstums – wie schon vor fünf Jahrzehnten formuliert – sollte man dezidiert betrachten. Vieles hat sich auch zum Guten gewendet. Von Dieter Wermuth*

Vor 50 Jahren erschien das Buch „Limits to Growth“ (Grenzen des Wachstums), geschrieben von vier Wissenschaftlern des Massachusetts Institute of Technology (MIT), in dem sie zeigten, dass die Ressourcen unseres Planeten auf unverantwortliche Weise geplündert würden – eine Kritik am Kapitalismus.

Die physischen Grenzen rückten näher und es drohe eine Katastrophe („overshoot and collapse“), wenn es nicht gelänge, den ökologischen Fußabdruck der Menschen zu reduzieren, also schonender mit den Ressourcen umzugehen. Das Buch war ein internationaler Bestseller, erlebte viele Neuauflagen und Aktualisierungen und kann für sich beanspruchen, das Bewusstsein für die ökologischen Risiken geschärft und nicht zuletzt die grüne Politik mit auf den Weg gebracht zu haben.

In der Zwischenzeit sind zahlreiche weitere Bücher zu diesem mittlerweile sehr populären Thema verfasst worden. Das jüngste stammt aus der Feder von Ulrike Herrmann, Wirtschaftsredakteurin bei der TAZ, „Das Ende des Kapitalismus“. Es ist gut geschrieben, mit hunderten von Fußnoten, einem umfangreichen Literaturverzeichnis und daher mit seriösem Anspruch.

Die wichtigste These ist nicht, dass der Kapitalismus am Ende sei, sondern dass wir Verzicht üben, also unseren verschwenderischen Lebensstil ändern sollten. Wenn das richtig gemacht würde, ginge es uns allen besser, nicht schlechter. Enteignungen sind für die Autorin kein Thema – der Preismechanismus und das Privateigentum sollen erhalten bleiben. Der Titel des Buches ist daher irreführend und wohl mit Blick auf die Auflagenhöhe und einen weiteren potenziellen Bestseller gewählt.

Warum soll der Kapitalismus am Ende sein? Ulrike Herrmann behauptet, dass es ihn ohne Wirtschaftswachstum nicht geben kann, und Wachstum erfordere eben die weitere ungebremste Ausbeutung der endlichen Ressourcen. Da das nicht so weitergehen kann, soll der Staat lenkend in die Energiewende und die Verwendung von Ressourcen eingreifen. Vorbild ist für sie die radikale und sehr erfolgreiche Umstellung der britischen Wirtschaft auf Militärprodukte in den Kriegsjahren 1940 bis 1945. Die Bevölkerung war sich damals darüber einig, dass sowohl der private Konsum als auch die privaten Investitionen verringert werden mussten, jedenfalls so lange der Krieg anhielt. Am Ende war Großbritannien das einzige europäische Land, das nicht von den Deutschen besetzt worden war.

Ich halte eine solche Strategie in Bezug auf die Aufgabe, vor der wir heute stehen, für ziemlich überzogen. Zunächst ist es zweifelhaft, dass Wachstum nur mit immer weiter steigendem Ressourceneinsatz möglich ist: In den reicheren OECD-Ländern nimmt beispielsweise der Verbrauch von Erdöl seit Jahren stetig ab, obwohl das reale BIP immer noch steigt, wenn auch mit geringeren Zuwachsraten.

Das reflektiert die neue Struktur der Nachfrage – Dienstleistungen statt Güter – sowie den Anstieg der relativen Preise für fossile Energie, in Kombination mit ehrgeizigen Programmen europäischer und amerikanischer Regierungen, die CO2-Emissionen zu verringern. Wachstum kann auch dadurch entstehen, dass der Input an Arbeit zunimmt, zum Beispiel durch einen Anstieg der Erwerbsquoten (Frauen, alte Menschen), sowie durch Fortschritte bei der Produktivität, nicht zuletzt durch eine effizientere Nutzung der Ressourcen. Dafür braucht es keine Kriegswirtschaft – Wachstum kommt, wie es aussieht, ab einem bestimmten Punkt ohne zusätzliche natürliche Ressourcen aus.

Für die Welt als Ganzes nimmt der Verbrauch fossiler Energie weiterhin zu, weil die Schwellenländer in ihrem Aufholprozess immer mehr Autos, Klimaanlagen und Waschmaschinen kaufen. Das Durchschnittseinkommen ist dort noch zu niedrig.

Das wirksamste Mittel gegen Ressourcenverschwendung ist auf längere Sicht ein steigender Wohlstand in den ärmeren Ländern außerhalb der OECD, auf die 85% der Weltbevölkerung entfallen. Dieser Prozess ist im Gange. Wem das zu lange dauert und zu gefährlich ist, sollte bei sich zuhause zusätzliche Anstrengungen unternehmen oder mit Kapitalexporten dafür sorgen, dass es in den Schwellenländern schneller geht.

Wenn der allgemeine Lebensstandard zunimmt und damit die Sozialsysteme robuster werden, bekommen die Leute außerdem erfahrungsgemäß im Durchschnitt auch weniger Kinder, so dass von daher die Nachfrage nach Ressourcen ebenfalls zurückgeht. Vor einigen Monaten wurde berichtet, dass es auf dieser Erde inzwischen 8 Mrd. Menschen gibt: Da die Weltbevölkerung laut UN nur noch mit einer Jahresrate von etwa 0,9% zunimmt, mit fallender Tendenz, wird sie sich ab 2070 oder 2080 bei rund 10 Mrd. stabilisieren und danach langsam schrumpfen. Für das Klima sind das gute Nachrichten.

Ein Grund, warum sich so etwas wie eine Kriegswirtschaft zugunsten der Umwelt in demokratisch verfassten Gesellschaften kaum wird durchsetzen lassen, ist schließlich auch die Tatsache, dass der Kapitalismus, wenn wir die Marktwirtschaft so bezeichnen wollen, eine echte Erfolgsstory ist und noch lange nicht ausgedient hat.

Marco Annunziata hat in seinem Blog „just think“ gerade anlässlich des amerikanischen Thanksgiving fünf Gründe genannt, weswegen wir trotz aller Probleme und Krisen für das jetzige System dankbar sein sollten:

1. Es gibt immer weniger Armut – noch 1990 lebten 40% der Menschen auf dieser Welt an oder unter der Armutsgrenze von USD 2,15 pro Tag, heute sind es nur noch 8%.

2. Im Jahr 1998 hatten 27% der Menschen keinen Zugang zu Strom, jetzt sind es weniger als 10% – beim Wasser ist der Fortschritt ebenfalls erheblich, zieht sich aber länger hin.

3. Die durchschnittliche Kindersterblichkeit ist in den vergangenen 30 Jahren von 65 pro 1.000 Lebendgeburten auf 27 gesunken.

4. Die Alphabetisierungsrate ist Jahr für Jahr gestiegen und hat zuletzt bei Männern 90% erreicht, bei den Frauen (bei denen der Fortschritt besonders rasch war) 83%.

5. Entgegen dem allgemeinen Eindruck hat das globale Wirtschaftswachstum die Ungleichheit der Einkommensverteilung in den letzten 30 Jahren nachhaltig vermindert, vor allem zugunsten der ärmeren Schichten und der mittleren Einkommen.

Trotz meiner Einwände ist Ulrike Herrmanns Buch insgesamt eine anregende und sehr informative Lektüre. Sie empfiehlt sich für die höheren Klassen von Gymnasien, denke ich, weil sie viele Thesen und kontroverse Ideen vorstellt und damit Diskussionsstoff bietet.

Dieter Wermuth

*) Dieter Wermuth ist Economist und Partner bei Wermuth Asset Management

———————-

Die Ausgabe 3/2022 Biotechnologie 2022  der Plattform Life Sciences ist erschienen. Die Ausgabe kann bequem als e-Magazin oder pdf durchgeblättert oder heruntergeladen werden.

Schon unsere brandneue Krypto-Jahresausgabe 2022 (1. Jg., Erscheinungstermin Aug. 2022) gesehen?

Unsere neueste BondGuide Jahresausgabe ,Green & Sustainable Finance 2022‘ ist im April erschienen und kann ebenso wie unser BondGuide Nachschlagewerk ,Anleihen 2021‘ als kostenloses E-Magazin bequem heruntergeladen, gespeichert & durchgeblättert oder weitergeleitet werden!

Bitte nutzen Sie für Fragen und Meinungen Twitter – damit die gesamte Community davon profitiert. Verfolgen Sie alle Diskussionen & News zeitnaher auf Twitter@bondguide !