Deutschland auf der Suche nach Arbeitskräften

Das Märchen von den fehlenden Arbeitskräften wird immer wieder aufs Neue erzählt – Zeit, Klarheit zu schaffen. Von Dieter Wermuth*

Nach den Berechnungen des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung waren in Deutschland im dritten Quartal 2022 nicht weniger als 1,82 Mio. Arbeitsplätze vakant. Die Diskussion über fehlende Fachkräfte hat in den vergangenen Tagen erneut an Fahrt aufgenommen. „In Kombination mit hohen Energiepreisen und den Herausforderungen der Transformation in Richtung Klimaneutralität könnten die immer größeren Personalengpässe bis hin zur Verlagerung von Produktion und Dienstleistungen ins Ausland führen„, meint die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK).

Das „… belastet nicht nur die Betriebe, sondern gefährdet auch den Erfolg bei wichtigen Zukunftsaufgaben: Energiewende, Digitalisierung und Infrastrukturausbau – für diese Aufgaben brauchen wir vor allem Menschen mit praktischer Expertise.“ Und die seien so rar wie nie zuvor.

Es sind die üblichen Klagen der Unternehmen. Da von den fast 2 Mio. offenen Stellen realistischerweise 1 Mio. besetzt werden könnten und die durchschnittliche Wertschöpfung eines Erwerbstätigen zurzeit 84.400 EUR pro Jahr beträgt, ist das Bruttoinlandsprodukt um gut 84 Mrd. EUR geringer als es sein könnte (bei dieser Rechnung wird das aktuelle BIP von 3,86 Bio. EUR durch 45,7 Mio. Erwerbstätige geteilt). Wir reden also über eine entgangene Produktion von 2,2% des BIP, Jahr für Jahr.

Kein Zweifel, wenn alle offenen Stellen mit tüchtigen Menschen besetzt würden, ginge es uns jetzt und in Zukunft besser, zumindest ein bisschen. Allerdings ist der deutsche Arbeitsmarkt viel robuster und dynamischer, als es zurzeit den Anschein hat. Seit Jahren nimmt die Anzahl der neu geschaffenen Jobs mit einer Rate von etwa 1% zu, also um fast eine ½ Mio. pro Jahr – auch während der jüngsten Wachstumsschwäche.

Die Bevölkerung ist von 80,3 Mio. im Jahr 2011 auf fast 84 Mio. im vergangenen Jahr gestiegen (0,4% p.a.), während die sogenannte Erwerbsbeteiligung inzwischen 54,5% erreicht hat, nach etwas weniger als 52% vor elf Jahren. Die Arbeitslosenquote betrug nach der Methodik der International Labour Organisation (ILO) zuletzt 3,0% und ist damit nach der japanischen die niedrigste unter den großen Volkswirtschaften (nach dem deutschen Verfahren beträgt die Arbeitslosigkeit allerdings 5,5%).

Trotzdem wäre es von Vorteil, wenn das Angebot an qualifizierten Arbeitskräften größer wäre. Das würde unter Anderem das deutsche Rentensystem zukunftssicherer machen und damit die finanzielle Belastung der jüngeren Generationen etwas verringern. Vorschläge reichen von einer besseren und umfassenderen frühkindlichen Bildung über Maßnahmen, mit denen sichergestellt wird, dass jeder Jugendliche eine berufliche Qualifikation bekommt und noch mehr Frauen mit Kindern bei der Betreuung geholfen wird, über eine Flexibilisierung und Anhebung des Renteneintrittsalters sowie verbesserte Anreize für die Zuwanderung von arbeitswilligen Ausländern.

Nicht gesprochen wird jedoch über die Löhne. In einer Marktwirtschaft wird eine Mangellage normalerweise geräuschlos und schnell durch eine Anpassung der Preise behoben. Wenn etwas knapp ist, steigen die Preise – und das erhöht das Angebot und beseitigt die Knappheit. Warum soll es am deutschen Arbeitsmarkt anders sein? Höhere Löhne und Gehälter sind die naheliegende und systemgerechte Lösung des Fachkräftemangels. Dabei darf niemanden wundern, dass sich dadurch die gesamtwirtschaftliche Struktur der Einkommen ändert, dass Krankenschwestern, Pfleger, Klempner, Metzger und Azubis relativ mehr bekommen, Immobilienmakler, Chefärzte, Notare, Vermögensberater dafür weniger, um das mal vereinfacht auf den Punkt zu bringen. Wenn sich die unterbezahlten Berufsgruppen jedoch nicht zusammentun und auf den Kampf einlassen, wird das nicht gelingen.

Seit der Jahrtausendwende sind die durchschnittlichen deutschen Reallöhne, also die nominalen Stundenlöhne minus die Inflationsrate, um lediglich um 0,5% pro Jahr gestiegen – also fast gar nicht. Das ist eine lange Zeit. Für den privaten Verbrauch und damit die Wachstumsdynamik unserer Wirtschaft wäre viel gewonnen, wenn die Einkommen der Berufsgruppen, bei denen das Arbeitsangebot zu gering ist, einige Jahre lang kräftig angehoben würden. Das ist ein Aspekt, der in der Diskussion über fehlende Fachkräfte bisher total vernachlässigt worden ist, der aber wichtiger ist als alles andere.

Dieter Wermuth

*) Dieter Wermuth ist Economist und Partner bei Wermuth Asset Management

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