
Das OLG München hat Schadensersatzansprüche ehemaliger Wirecard-Aktionäre okayisiert. Das hat Konsequenzen auch für Anleihegläubigerrechte. Von Dr. Lutz Pospiech und Lena Gerhard, GÖRG.
>> aus BondGuide 13-2025 vom 27. Jun <<
Mit Zwischenurteil vom 17.9.2024 hat das Oberlandesgericht München entschieden, dass Schadensersatzansprüche institutioneller Wirecard-Aktionäre, die aufgrund irreführender Kapitalmarktinformationen entstanden sind, als Insolvenzforderungen gemäß § 38 InsO behandelt werden können. Sie seien nicht dem sog. „Nach-Nachrang“ nach § 199 S. 2 InsO zuzuordnen, der nur bei einem Insolvenz-Überschuss berücksichtigt wird. Das OLG hat die Revision zum Bundesgerichtshof zugelassen – eine höchstrichterliche Klärung steht also noch aus. Die Verhandlung vor dem BGH soll am 16.10.2025 stattfinden.
Die Entscheidung des OLG München (Az. 5 U 7318/22e
Im Streit stand die Frage, ob Aktionäre, die sich durch irreführende Veröffentlichungen der Wirecard AG (Schuldnerin) zum Aktienkauf verleiten ließen, im Insolvenzverfahren der Schuldnerin als Insolvenzgläubiger gemäß § 38 InsO behandelt werden können oder ob ihre Ansprüche lediglich bei einem etwaigen Überschuss aus der Masse berücksichtigt werden dürfen.
Die InsO unterscheidet verschiedene Gruppen von Gläubigern mit unterschiedlichen Rechten hinsichtlich der Befriedigung ihrer Forderungen. In der Rangfolge ihrer Ansprüche wird unterschieden zwischen (i) absonderungsberechtigten Gläubigern, (ii) Massegläubigern, (iii) Insolvenzgläubigern und (iv) nachrangigen Insolvenzgläubigern. Erst wenn jeweils sämtliche Ansprüche der Gläubiger einer Gruppe befriedigt werden können, kann auch eine Auszahlung an die Gläubiger der jeweils nachfolgenden Gläubigergruppe erfolgen (Wasserfall-Prinzip).
Da Aktionäre in der Insolvenz erst nach allen Gläubigern (auch nach allen nachrangigen Insolvenzgläubigern) zu befriedigen sind – d.h. lediglich dann, wenn nach Berichtigung der Kosten des Insolvenzverfahrens und der sonstigen Masseverbindlichkeiten sowie aller Insolvenzforderungen (einschließlich der nachrangigen) überhaupt ein Überschuss verbleibt (§ 199 S. 2 InsO) –, gehen Aktionäre in einem Insolvenzverfahren mit Ausnahme von den ganz wenigen Fällen einer Vollbefriedigung aller Gläubiger oftmals leer aus.
Entgegen der Vorinstanz (LG München I, Urt. v. 23.11.2022 – 29 O 7754/21) stellte das OLG in seinem Zwischenurteil klar: Schadensersatzansprüche von Aktionären, die aufgrund einer unerlaubten Handlung der AG entstanden sind, stünden den Aktionären als echte Insolvenzforderungen (§ 38 InsO) zu.
Zur Begründung verweist das OLG München unter anderem auf die EM.TV-Rechtsprechung des BGH und das ‚Hirmann-Urteil‘ des EuGH: Danach begründen Schadensersatzansprüche, die aufgrund einer unerlaubten Handlung und/oder Kapitalmarktverstößen entstanden sind, eine gläubigerähnliche Stellung – auch wenn diese Schadensersatzansprüche Aktionären der Schuldnerin zustehen. Da die Aktien auf dem Sekundärmarkt erworben wurden, liege zudem keine Eigenkapital-Finanzierung der Schuldnerin wie bei einem Gesellschafterdarlehen vor. Eine insolvenzrechtliche Nachrangigkeit nach § 39 I Nr. 5 InsO sei daher ebenfalls ausgeschlossen.
Bedeutung für Anleihegläubiger
Sollte der BGH das Zwischenurteil des OLG München bestätigen, hätte dies erhebliche Konsequenzen für die Inhaber der von der Schuldnerin ausgegebenen Schuldverschreibungen in Höhe von nominal über insgesamt 500 Mio. EUR mit einer Verzinsung von 0,5 % p.a. (Anleihegläubiger), deren Forderungen gegen die Schuldnerin als Insolvenzforderungen gemäß § 38 InsO anerkannt sind.
Signifikante Folge wäre insbesondere eine Verwässerung der Insolvenzquote der Anleihegläubiger, da zusätzlich zu deren bereits anerkannten Forderungen milliardenschwere Schadensersatzforderungen von Aktionären der Schuldnerin in die Verteilung der Masse einbezogen werden könnten.
Darüber hinaus könnte auch allgemein in Bezug auf Anleihen als Finanzierungsinstrument ein Vertrauensverlust eintreten, sofern und soweit bestimmte Verluste der an sich nachrangigen, das unternehmerische Risiko tragenden Aktionäre im Nachhinein zu Insolvenzforderungen im Rang mit den Ansprüchen der Anleihegläubiger werden könnten. Die endgültige Entscheidung des BGH in dieser Sache wird richtungsweisend sein – nicht nur für den Wirecard-Fall, sondern für den deutschen Kapitalmarkt insgesamt.
Sie wird u.a. die Weichen dafür stellen, ob künftig unter Umständen Aktionärsverluste infolge deliktisch relevanter Kapitalmarktkommunikation in gleichem Maße berücksichtigt werden wie etwa Forderungen aus Anleihen. Für Anleihegläubiger wäre mit einer deutlich komplexeren Situation zu rechnen, in der die insolvenzrechtliche Verteilungsreihenfolge Anpassungen erfährt.
Fazit
Das OLG München hat mit seiner Entscheidung ein starkes Signal zugunsten von Schadensersatzforderungen von Aktionären gegen die Insolvenzschuldnerin gesetzt, die auch zu spürbaren Auswirkungen auf den Insolvenzschutz der Fremdkapitalgeber führt. Sollte der BGH diese Linie bestätigen, sind Anleihegläubiger bei ihrer Investitionsentscheidung gut beraten, künftig noch sorgfältiger auf rechtliche Rahmenbedingungen und vor allem die konkrete Kapitalstruktur von Emittenten zu achten.
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