Interview: „Die Digitalisierung verändert nahezu alle Lebensbereiche drastisch“

@Club of Rome

Es sind zwei der Megathemen unserer Zeit: Digitalisierung und Nachhaltigkeit. Die digitale Transformation verändert alle Lebens- und Arbeitsbereiche des Menschen. Die FOM* sprach mit Prof. Dr. Halit Ünver

Neue Entwicklungen machen den Alltag einfacher und bequemer, fördern jedoch den Konsum. Gleichzeitig wird der Ruf nach sozialer, ökologischer und ökonomischer Nachhaltigkeit weltweit lauter. Das wirft die Frage auf, in welchem Verhältnis Digitalisierung und Nachhaltigkeit zueinanderstehen. Darüber haben wir mit dem Experten für Digitale Transformation, Nachhaltigkeit und Internationale Beziehungen, Prof. Dr. Halit Ünver, gesprochen.

Prof. Ünver, ist die Digitalisierung Fluch oder Segen für Aspekte der Nachhaltigkeit?
Die Potenziale digitaler Technologien sind ein wichtiger Hebel im Kampf gegen den Klimawandel und wurden auf der Weltklimakonferenz COP27 mit Aufmerksamkeit verfolgt. Sie können aber auch zu einem Verhängnis für Mensch und Natur werden. Aus sich heraus ist die Digitalisierung pauschal nicht unbedingt nachhaltig. Wenn wir einen Prozess digitalisieren, der Output aber mehr Schäden verursacht als dies ohne Digitalisierung der Fall wäre, ist das keine nachhaltige Entwicklung. Wollen wir eine nachhaltige Welt, kann die Digitalisierung also nur Mittel zum Zweck, nicht aber Selbstzweck sein.

Bei manchen Themen scheint nicht mal Beten zu helfen

Welchen Einfluss hat denn die Digitalisierung auf unser Konsumverhalten?
Seit Mitte November sind wir 8 Mrd. Menschen auf der Erde. Im Jahr 2050 werden es zwischen zehn und elf Milliarden sein. Der Mensch muss seine Grund- und Existenzbedürfnisse wie Essen, Trinken, Kleidung decken. Alles, was darüber hinaus geht, ist on top. Statistiken sprechen beispielsweise von 8.000 bis 10.000 Dingen, die ein durchschnittlicher Europäer besitzt. Sofern die Kaufkraft vorhanden ist, verändert die Digitalisierung unser Konsumverhalten drastisch und fördert dieses enorm. Zudem befördert die Digitalisierung auch unsere Sicherheits-, Sozial-, Wertschätzungs- und Selbstverwirklichungsbedürfnisse. Befeuert durch digitale Technologien bewegen wir uns von einer Bedarfsdeckungsgesellschaft hin zu einer Bedarfsweckungsgesellschaft.

Hilft denn aber die Digitalisierung nicht auch dabei, Ressourcen zu sparen?
Ja und nein. Die Digitalisierung zieht Rebound-Effekte nach sich. Sie ermöglicht zwar Effizienzsteigerungen, sodass Waren und Dienstleistungen pro produzierter Einheit immer ökonomischer werden. Durch diese Einsparungen ändert sich jedoch oft das Verhalten der Menschen – sie verbrauchen mehr, sodass der absolute Verbrauch insgesamt steigt. Beispielsweise verdoppelt sich die Rechenleistung in der Chipindustrie alle zwei Jahre, bei etwa stabilem Preisniveau. Mit anderen Worten: Den heutigen Chip bekommen wir in zwei Jahren zum halben Preis. Dafür verbauen wir die Chips in viele Maschinen und Geräte. Ziel muss es deshalb sein, die Digitalisierung sinnvoll einzusetzen, um Nachhaltigkeit zu stärken. Das kann zum Beispiel in Form einer Kreislaufwirtschaft geschehen oder in Folge von Dematerialisierung, durch die Ressourcen zugunsten einer digitalen Technologie eingespart werden.

Wer trägt dafür die Verantwortung und wie könnten Lösungen aussehen?
Der globale Norden und damit die Industrienationen sind Treiber dieser Entwicklung. Sie sind Hauptverursacher der Probleme und müssen zugleich Lösungen entwickeln. Lösungen der Informations- und Kommunikationstechnologie können zum Beispiel eine Reduzierung der globalen Treibhausgasemissionen um bis zu 15% bis 2030 ermöglichen, während sie für zwei bis vier Prozent des globalen CO2-Fußabdrucks verantwortlich sind. Mit neu aufkommenden Technologien wie 5G, Künstlicher Intelligenz, Smart Grids und dem Internet der Dinge können wir wahrscheinlich noch mehr Reduzierungen erzielen, wenn wir sie richtig implementieren. Technologie kann auch bei der Anpassung helfen, zum Beispiel durch digitale Überwachungs- und Warnsysteme bei extremen Wetterereignissen – von Waldbränden bis hin zu Überschwemmungen und Wirbelstürmen. Mittel- bis langfristig sind die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen – Sustainable Development Goals (SDGs) – maßgeblich.

Nachhaltigkeit und Digitalisierung müssen also global gedacht werden?
Genau – anders geht es nicht! Und dazu braucht es erstens starke, globale Koalitionen von Nachhaltigkeits- und Digitalisierungsexperten, die gemeinsame Visionen, Standards und Ziele mit Blick auf die Agenda 2030 formulieren. Zweitens geht es um die Verminderung der negativen Auswirkungen – Treibhausgase und Elektroschrott etwa. Drittens müssen Innovationen beschleunigt werden. Die von der UN unterstützte Coalition for Digital Environmental Sustainability (CODES) hat Mitte 2022 eine entsprechende Initiative gestartet. Was die Finanzierungsmöglichkeiten für grüne Technologien anbelangt, so arbeiten wir gerade mit einem internationalen Team an der Konzeption eines „Green Impact Fund for Technology“ (GIFT). Die Idee eines solchen öffentlich finanzierten Impact Funds könnte teilweise das Verbreitungsproblem von Technologien lösen, indem Innovationen – zu fairen Verkaufspreisen – gemäß dem mit ihnen erzielten gesellschaftlichen Klimanutzen belohnt würden.

Prof. Dr. Halit Ünver

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Schon gewusst?

Vor 50 Jahren, also 1972, legte der Club of Rome den Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ vor. Darin untersuchte ein Forschungsteam des Massachusetts Institute of Technology (MIT) in den USA anhand von Computersimulationen, wie sich fünf große Trends über die Zeit beeinflussen: Industrialisierung, Bevölkerungswachstum, Unterernährung, Rohstoffvorräte und Umweltschäden. Das Szenario: Würde die Menschheit so weiterleben und wirtschaften wie bisher, steuere die Weltgesellschaft auf eine globale Katastrophe bis zum Jahr 2100 zu. Die Studie wurde kontrovers diskutiert. Zwei aktualisierte Versionen des Berichts bestätigen jedoch die Annahmen und zeigen Hürden auf, die für ein nachhaltiges Handeln notwendig sind.

Mit über 50.000 Studierenden ist die FOM, Deutschlands Hochschule für Berufstätige, eine der größten Hochschulen in Europa. In sechs Hochschulbereichen stehen mehr als 40 international anerkannte Bachelor- und Master-Studiengänge zur Verfügung. Berufstätige und Auszubildende haben die Wahl, ob sie im Campus-Studium an einem der 36 Hochschulzentren studieren möchten oder im Digitalen Live-Studium, bei dem die Vorlesungen in virtueller Präsenz aus multifunktionalen Studios übertragen werden. Die FOM ist eine Initiative der gemeinnützigen Stiftung BildungsCentrum der Wirtschaft mit Sitz in Essen. Sie ist vom Wissenschaftsrat akkreditiert und seit 2012 zusätzlich systemakkreditiert. Weitere Informationen: www.fom.de und www.fom-digital.de.

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