Das schuldverschreibungsrechtliche Freigabeverfahren – ein Überblick

Dr. Daniel Rubner (li), Dr. Lutz Pospiech, GÖRG

Law Corner von Dr. Daniel Rubner, Counsel, Dr. Lutz Pospiech, Counsel, GÖRG Partnerschaft von Rechtsanwälten mbB, München

Gegen Beschlüsse der Anleihegläubigerversammlung (AGV) können einzelne Gläubiger die Anfechtungsklage erheben. Nach Erhebung von Anfechtungsklagen kann der Emittent die Beschlüsse der Anleihegläubiger zunächst nicht vollziehen (§ 20 III 4 SchVG). Gerade in der Krise des Emittenten ist aber eine rasche Umsetzung der Gläubigerbeschlüsse entscheidend. Um das Droh- und Druckpotenzial von Anfechtungsklägern zu begrenzen, stellt das Gesetz dem Emittenten das Instrument des Freigabeverfahrens zur Verfügung: Im Falle einer positiven Freigabeentscheidung können die von der AGV gefassten Beschlüsse auch dann vollzogen werden, wenn noch Anfechtungsklagen rechtshängig sind.

Verfahrensfragen
Sind Klagen gegen die Beschlüsse der AGV erhoben worden, kann der Emittent einen Freigabeantrag stellen. Über den Freigabeantrag entscheidet nicht das LG, bei dem die Anfechtungsklagen anhängig sind, sondern das übergeordnete OLG. Der Antragsteller, also der Emittent, hat die Tatsachen, die für eine Freigabeentscheidung sprechen, glaubhaft zu machen. Das OLG soll innerhalb von drei Monaten über den Freigabeantrag entscheiden.

Freigabegründe
Ein Freigabeantrag eines Emittenten hat gemäß § 20 III 4 SchVG i.V.m. § 246a II Nr. 1-3 AktG dann Erfolg, wenn (i) die Klagen unzulässig oder offensichtlich unbegründet sind oder (ii) der Anfechtungskläger nicht binnen einer Woche nach Zustellung des Freigabeantrags nachweist, dass er seit der Einberufung der Anleihegläubigerversammlung Schuldverschreibungen der betreffenden Anleihe im Nennwert von insgesamt 1.000 EUR hält, oder (iii) das alsbaldige Wirksamwerden der Beschlüsse der Anleihegläubigerversammlung vorrangig erscheint, weil die vom Emittenten dargelegten wesentlichen Nachteile für den Emittenten nach freier Überzeugung des Gerichts die Nachteile für den jeweiligen Kläger überwiegen, es sei denn, es liegt eine besondere Schwere des Rechtsverstoßes vor. Für eine stattgebende Freigabeentscheidung muss nur einer dieser Freigabegründe vorliegen.

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Der Freigabegrund der Unzulässigkeit einer Klage liegt vor, wenn die betreffende Klage nicht den Anforderungen des § 253 ZPO genügt oder eine Prozessvoraussetzung fehlt (z.B. die Parteifähigkeit). Eine Klage ist offensichtlich unbegründet, wenn das OLG zu dem Ergebnis gelangt, dass die Klage mit hoher Wahrscheinlichkeit unbegründet ist. Offensichtliche Unbegründetheit liegt z.B. dann vor, wenn es den Anfechtungsklägern bereits an der Anfechtungsbefugnis fehlt, etwa wenn sie ihre Klagen in rechtsmissbräuchlicher Weise erhoben haben. Das ist insb. dann der Fall, wenn es dem Kläger gar nicht auf eine Rechtmäßigkeitskontrolle der gefassten Beschlüsse ankommt, sondern auf die Erzeugung eines Lästigkeitswerts, den er sich vom Emittenten abkaufen lassen will.

Ein Freigabebeschluss ergeht auch dann, wenn der Anfechtungskläger nicht innerhalb von einer Woche ab Zustellung des Freigabeantrags durch Urkunden nachweist, dass er bereits seit Bekanntmachung der Einberufung zur AGV Schuldverschreibungen im Nennwert von mindestens 1.000 EUR gehalten hat. Der Gesetzgeber wollte durch diesen Freigabegrund das Geschäftsmodell von Klägern erschweren, die nur auf die Erhebung von Anfechtungsklagen aus sind und aufgrund einer bekannt gemachten Tagesordnung mögliche Ansatzpunkte hierfür sehen.

In der schuldverschreibungsrechtlichen Praxis sind allerdings meistens zwei AGVs erforderlich, damit die Restrukturierungsbeschlüsse gefasst werden können. Der Wille des Gesetzgebers, gezielte Erwerbe zum Zweck der Erhebung von Anfechtungsklagen zu verhindern, kann daher nur dann erreicht werden, wenn allein auf die Bekanntmachung der Einberufung der ersten – regelmäßig beschlussunfähigen – AGV abgestellt wird (OLG Karlsruhe, BeckRS 2015, 16550). Nur dann kann der Zweck der Regelung erreicht werden: Es soll verhindert werden, dass Anfechtungskläger die Bekanntmachung der Tagesordnung zum Anlass nehmen, Schuldverschreibungen überhaupt erst zu erwerben, um mit der Erhebung von Anfechtungsklagen eine Blockadesituation zu erzeugen.

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Ein stattgebender Freigabebeschluss ergeht auch dann, wenn das Vollzugsinteresse des Emittenten das Aussetzungsinteresse der Anfechtungskläger überwiegt und in den angefochtenen Beschlüssen kein besonders schwerer Rechtsverstoß vorliegt. Im Mittelpunkt der gerichtlichen Prüfung stehen hier also nicht die Erfolgsaussichten der Anfechtungsklagen. Vielmehr kann der Freigabebeschluss auch dann ergehen, wenn die angefochtenen Beschlüsse an formellen oder materiellen Mängeln leiden. Es darf sich eben nur nicht um einen „besonders schweren Rechtsverstoß“ handeln.

Im Zentrum der gerichtlichen Prüfung steht eine Abwägung der widerstreitenden Interessen: Den wirtschaftlichen Interessen der Gesellschaft und der (nicht klagenden) Anleihegläubiger am Vollzug der gefassten Beschlüsse stellt das Gericht das wirtschaftliche Interesse der Anfechtungskläger an einer Aussetzung des Vollzugs gegenüber. Als Vollzugsinteresse sind alle wesentlichen dem Emittenten und den nicht klagenden Gläubigern aus einem Nichtvollzug oder einer Verzögerung des Vollzugs drohenden Schäden und Nachteile zu berücksichtigen. Diese werden sich im Rahmen zumeist aus der Insolvenzgefahr ergeben, die durch eine (weitere) Blockade der Gläubigerbeschlüsse droht. Als Aussetzungsinteresse sind nur die eigenen wirtschaftlichen Nachteile der Anfechtungskläger zu berücksichtigen.

Rechtsfolgen
Das OLG entscheidet nicht über die Anfechtungsklagen. Diese bleiben vielmehr beim LG anhängig und über sie wird in der Praxis oft erst Monate oder Jahre nach dem Freigabebeschluss entschieden. Ein stattgebender Freigabebeschluss überwindet aber die mit einer Anfechtungsklage verbundene Vollzugssperre. Selbst wenn sich später die Anfechtungsklagen als begründet erweisen sollten, sind die dann bereits vollzogenen Anleihegläubigerbeschlüsse nicht mehr rückgängig zu machen. Die Anfechtungskläger haben in diesem Fall lediglich einen Anspruch auf Schadensersatz (§ 20 III 4 SchVG i.V.m. § 246a IV AktG).