„Wikipedia einzige nichtkommerzielle Website in den Top-5“

Wikipedia als Visitenkarte eines Unternehmens? Mit branchentypischer IR-Speak kommt man nicht weit – oder gar auf die Strafbank ohne Möglichkeit, nochmal einzugreifen. Im Gespräch mit Experte Torsten Passmann*

Herr Paßmann, für Unternehmen sind die ‚Socials‘ seit Jahren Pflicht und Kür. Wo ordnet sich da Wikipedia ein?
Auf den ersten Blick ganz oben. Als einzige nichtkommerzielle Website in den Top 5 nach Abrufen gilt sie grundsätzlich als vertrauenswürdig. Auch tauchen Artikel bei Google-Suchen im Regelfall zweimal auf der ersten Seite auf – als Infobox und als Ergebnis. Dieser Kanal erreicht damit alle Stakeholder vom potenziellen Bewerber bis zum Investor.

Wie wird sichergestellt, dass sich ein Unternehmen bei Wikipedia nicht übermaßen lobhudelig auf die Schultern klopft: Wer kontrolliert das und wer hat die Deutungshoheit?
Zu den Eckpfeilern der Enzyklopädie gehört die Neutralität. Artikel müssen ausgewogen und nicht werblich geschrieben sein. Bei neuen Artikeln fallen der Community Verstöße meist sehr schnell auf, Bestandsartikel fliegen aber manchmal jahrelang unter dem Radar. Das liegt daran, dass es keine Zentralredaktion gibt und sich jeder Benutzer selbst seine Themen und konkreten Aufgaben aussucht. Deutungshoheit im weiteren Sinn entsteht dann im Diskurs, bei denen sich selten Benutzer aus Unternehmen durchsetzen. Ihnen fehlen das Regelwissen, die Erfahrung im Umgang mit der Community und oft auch der lange Atem.

„Es findet sich immer jemand, der Wissen, Zeit und Ausdauer mitbringt, um den neutralen Charakter der Wikipedia zu wahren.“

Nun hat gar nicht jedes Unternehmen, selbst Kapitalmarkt-nahe nicht alle, eine Visitenkarte bei Wikipedia. Wer ist für Wikipedia hinreichend ‚relevant‘?
Das ist in dem relativ bürokratischen Katalog der sogenannten Relevanzkriterien definiert. Ein Unternehmen ist drin, wenn es quantitativ über wenigstens 100 Mio. EUR Umsatz oder 1.000 Mitarbeiter verfügt. Das gilt unabhängig von der Branche. Darunter gibt es spezielle Kriterien, wie etwa die Notierung im Regulierten Markt in Deutschland – der Freiverkehr reicht nicht aus. Qualitative Kriterien wie ‚marktbeherrschende Stellung‘ oder ‚innovative Vorreiterrolle‘ legt die Community meist strenger aus als Unternehmen.

Und wie steht es mit den verantwortlichen Personen in Unternehmen? Als Manager müssten aktuelle wie verflossene Organmitglieder doch eigentlich zu finden sein.
Über all die Jahre kam es nie zu Kriterien für Manager. In der Praxis werden aber wenigstens die Vorstandsvorsitzenden von DAX-Unternehmen pauschal als relevant erachtet. Alle anderen müssen im Regelfall über die Medienberichterstattung kommen. Beiläufige Erwähnungen sind dabei zu wenig: Es muss sichtbar um die Person gehen.

„Wenn es schlecht läuft, kommen bislang nicht vorhandene kritische Inhalte dazu oder sie werden ausgebaut.“

Nun sind die Mitmach-Wiki-Regeln zumindest halbwegs bekannt. Gibt es auch Gelb und Rot für leichte bzw. rüde Fouls?
Man muss offenlegen, dass man für Unternehmen arbeitet. Man muss sehr schnell verstehen, was gute Artikel ausmacht, etwa die Freiheit von Marketingfloskeln. Kommt es zu Verstößen, können temporäre Sperren die Folgen sein. Wer unbelehrbar als Werbetreibender auftritt, wird im Regelfall unbegrenzt gesperrt.

Taugt Wikipedia für Whitewashing, also z.B. indem ein Unternehmen die Deutungshoheit für einen umstrittenen Sachverhalt an sich reißen möchte?
Eindeutig nein. Das mag kurzfristig funktionieren, aber die Community fügt solche Inhalte meist wieder ein. Es findet sich immer jemand, der Wissen, Zeit und Ausdauer mitbringt, um den neutralen Charakter der Wikipedia zu wahren. Wenn es schlecht läuft, kommen bislang nicht vorhandene kritische Inhalte dazu oder sie werden ausgebaut.

„Die wichtigste Zielgruppe ist eben nicht der Auftraggeber, sondern die Community.“

Einige Kapitalmarktunternehmen – und nicht eben die kleinsten – haben sich bei Wikipedia schon in die Nesseln gesetzt, z.B. Stahlhändler Klöckner. Man sollte meinen, bei einem Marktwert von 1 Mrd. EUR könne man sich Knowhow bezahlbar einkaufen. War nicht genau das das Problem?
Im Rahmen einer ganz anderen Sache kam zufällig heraus, dass eine Agentur Klöckners Wikipedia-Artikel bearbeiten sollte. Das ist eigentlich kein Problem, auch PR-Profis dürfen in Wikipedia mitarbeiten. Aber sie müssen das Auftragsverhältnis und das bezahlte Schreiben im Namen der Agentur offenlegen. Weil das nicht passiert ist, wurden zwei mutmaßliche Agenturkonten für immer ausgeschlossen. Und der Artikel war so werblich, dass ein Benutzer ihn zwischenzeitlich um etwa 80% eingedampft hat. Die wichtigste Zielgruppe ist eben nicht der Auftraggeber, sondern die Community. Außerhalb Wikipedia hat das keine so großen Wellen geschlagen, aber innerhalb wurde dem Unternehmen dann mit Misstrauen begegnet.

„Wikipedia ist keine weitere Marketingplattform, sondern eine Enzyklopädie. Den Unterschied verstanden zu haben, ist ein guter Ausgangspunkt.“

Der Schweizer Mischkonzern Meyer Burger, MarketCap rund 2 Mrd. EUR, tappte in einen vergleichbaren Fettnapf.
Der Community sind drei Benutzerkonten aufgefallen, die zu offensichtlichen Marketingzwecken den Artikel bearbeitet haben. Alle Indizien sprachen für werbliches Schreiben im Auftrag. So hat man etwa auf sehr plumpe Art einen kompletten Absatz über strafrechtliche Ermittlungen und Kritik gestrichen. Letzten Endes wurden die Konten ebenfalls unbegrenzt gesperrt.

Das klingt sehr nach Minenfeld. Also lieber Finger weg?
Das Mitmachen selbst kostet kein Geld, gute Ergebnisse erfordern dennoch ein Investment — entweder in den Aufbau eigener Kompetenz oder in eine externe Kraft, die das System versteht und vermitteln kann. In aller Kürze: Wikipedia ist keine weitere Marketingplattform, sondern eine Enzyklopädie. Den Unterschied verstanden zu haben, ist ein guter Ausgangspunkt.

Torsten Passmann

Herr Passmann, danke für die interessanten Einblicke!

Anm.d.Red.: Das Interview erschien parallel auch auf www.goingpublic.de unter diesem Link

*) Torsten Paßmann ist Journalist und Kommunikationsberater. Seine Expertise hat er u.a. als PR- und IR-Manager von Berentzen aufgebaut.
www.torsten-passmann.de

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