Weichwährung? – Erfolgsstory Euro

Ende 2023 dürfte die europäische Inflationsrate wieder unter 3% liegen. Und was ist mit dem Euro? Von Dieter Wermuth, Economist und Partner bei Wermuth Asset Management

Es ist kaum zu glauben: Wenn die Verbraucherpreise seit Januar 1999, als der Euro eingeführt wurde, Jahr für Jahr um 2% gestiegen wären, wie es sich die EZB von Anfang an vorgenommen hatte, lägen sie heute um 58% über ihrem Ausgangswert. Genau da befinden sie sich (bis auf eine Differenz von 0,8%).

Es ist eine Erfolgsstory sondergleichen. An den Devisenmärkten gilt der Euro zwar seit einiger Zeit als Weichwährung, was seine interne Kaufkraft angeht, könnte er aber härter nicht sein.

Ein Anstieg von jährlich 2% gilt in den reicheren Ländern der Welt als Preisstabilität. Wäre er höher, könnte das Vertrauen in die Währung verloren gehen. Wäre er geringer, droht die Gefahr der Deflation, also das Risiko, dass die reale Last der Schulden zunimmt, schuldenfinanzierte Ausgaben zurückgehen und die Wirtschaft ihr Potenzial nicht ausschöpft. Dabei kommt es natürlich darauf an, wie weit die Inflationserwartungen von dem 2%-Zielwert nach oben oder unten abweichen.

In den ersten 13 Jahren hatte sich das Preisniveau mit nur kleinen Variationen um den Zielpfad der EZB bewegt, danach folgten acht Jahre, in denen es so langsam zunahm, dass die Deflationsgefahr ernst genommen werden musste: Der Hauptrefinanzierungssatz der EZB wurde daher auf 0%, der Einlagezins sogar auf minus 0,5% gesenkt. In den vergangenen anderthalb Jahren hat der Wind gedreht und das Preisniveau zurück auf den Zielpfad katapultiert. Ähnlich war es in den übrigen Ländern der OECD-Region.

Foto: © studio v-zwoelf – stock.adobe.com

Eine Beobachtung am Rande: Die Inflation der Verbraucherpreise ohne die Preise für Energie und Nahrungsmittel, genannt Kerninflation, hat seit der Einführung des Euro im Jahresdurchschnitt nicht um 2%, sondern nur um 1,5% zugenommen. Zudem gab es im Verlauf erwartungsgemäß deutlich geringere Schwankungen.

Strukturell steigen in Europa die Preise für Ölprodukte, Gas und Nahrungsmittel offenbar rascher als der Rest, vielleicht wegen Kartelleffekten (OPEC), der EU-Agrarpolitik oder natürlicher Knappheiten. Keine Ahnung. Jedenfalls fluktuiert die Gesamtinflation keineswegs um die Kerninflation – die daher auch kein nützlicher Frühindikator ist. Nicht viel anders in den USA, wo die Gesamtinflation und die Kerninflation im selben Zeitraum um durchschnittlich 2,5% und 2,2% zugenommen hatten.

Für die EZB bleibt nur wenig Zeit, sich auf die Schulter zu klopfen und darauf zu verweisen, dass es nicht so schlimm ist, wenn nach dem langen Unterschießen des Zielpfads jetzt eine Periode des Überschießens folgt. In der Öffentlichkeit zählt allein, dass die Inflationsrate bei 8,9% angekommen ist. Wer will ausschließen, dass sie noch auf über 10% klettert?

Mario D.: lange Zeit Herrscher über den Euro

Wenn nämlich im Herbst, wie absehbar, die Abschlagszahlungen für Strom und Gas deutlich erhöht werden. Die ärmeren Schichten der Gesellschaft müssen erneut mit einem Kaufkraftschock rechnen. Auch zieht in dieser Situation das Argument nur wenig, dass hohe Energiepreise genau die Medizin sind, die der Arzt für die Rettung des Klimas verschreiben würde. Für arme Leute klingt das wie Hohn.

Da es am europäischen Arbeitsmarkt recht gut läuft, hat die EZB noch etwas Spielraum für höhere Leitzinsen. Sie wird ihn nutzen, um die Nachfrage zu dämpfen und so etwas Inflationsdruck aus dem System zu nehmen. Der schwache Wechselkurs des Euro und der große Abstand zur amerikanischen Fed Funds-Rate sprechen ebenfalls für einen weiteren Zinsanstieg.

Priorität hat bis auf Weiteres die Bewahrung der Kaufkraft, nicht die Verhinderung einer Rezession. Die lässt sich ohnehin kaum vermeiden, weil die Haushaltseinkommen in Europa viel langsamer zunehmen als das allgemeine Preisniveau.

Es sieht nicht danach aus, dass die Inflation demnächst aus dem Ruder laufen könnte. Dazu müssten die Lohnstückkosten (ihre wichtigste Determinante) viel stärker steigen als zuletzt. An den europäischen Arbeitsmärkten geht es trotz der starken Verhandlungsposition der Arbeitnehmer und des Rückgangs der realen Löhne und Gehälter ziemlich friedlich zu. Vermutlich hat die russische Invasion der Ukraine beiden Seiten klargemacht, dass Kooperation das Gebot der Stunde ist, nicht die Maximierung oder Minimierung der Arbeitseinkommen.

Dieter Wermuth

Insgesamt sind die Inflationserwartungen trotz der rekordhohen aktuellen Inflation sehr niedrig. Ein wichtiger Indikator ist die Rendite der zehnjährigen Bundesanleihen, die nur 0,9% beträgt und in den letzten Monaten kräftig gesunken ist. Erfreulich auch, dass die Ölpreise von der Spitze um 20% zurückgekommen sind, die Weizenpreise um 30%. Die Lage entspannt sich also.

Ich kann mir daher vorstellen, dass die EZB ihren Hauptrefinanzierungssatz von heute bis zum ersten Quartal 2023 um insgesamt 100 Basispunkte auf 1,5% anheben wird, dann aber erst einmal abwarten will, was sich an der Inflationsfront tut. Ende 2023 dürfte die europäische Inflationsrate wieder unter 3% liegen. Die wichtigste Annahme ist, dass es nicht zu einer militärischen Katastrophe kommt.

—————————-

Schon unsere brandneu Krypto-Jahresausgabe 2022 (1. Jg., Erscheinungstermin Aug. 2022) gesehen?

Unsere neueste BondGuide Jahresausgabe ,Green & Sustainable Finance 2022‘ ist erschienen und kann ebenso wie unser BondGuide Nachschlagewerk ,Anleihen 2021‘ als kostenloses E-Magazin bequem heruntergeladen, gespeichert & durchgeblättert oder weitergeleitet werden!

Bitte nutzen Sie für Fragen und Meinungen Twitter – damit die gesamte Community davon profitiert. Verfolgen Sie alle Diskussionen & News zeitnaher auf Twitter@bondguide !