Der Euro ist zur Weichwährung mutiert

Ein Plädoyer für rascher steigende europäische Leitzinsen und eine Aufwertung des Euro – von Dieter Wermuth, Economist und Partner bei Wermuth Asset Management

Vor zehn Jahren betrug das nominale Bruttoinlandsprodukt Eurolands pro Kopf 29.230 EUR, das der USA 40.190 EUR. Zurzeit sind es in der Währungsunion 37.160 EUR, in Amerika 71.840 EUR. Zwar hat sich das europäische pro-Kopf-BIP in diesem Zeitraum um 27% erhöht, das amerikanische dagegen, in Euro, um 79%.

Relativ gesehen ist Europa ärmer geworden, kann sich für seine Währung weniger kaufen. Für viele, vor allem hochqualifizierte und talentierte Europäer ist der Anreiz inzwischen sehr stark, in die USA auszuwandern (oder in die Schweiz), es kommt zu einem sogenannten Brain Drain, der die internationale Wettbewerbsfähigkeit unseres Kontinents beeinträchtigt. Importe haben sich deutlich mehr verteuert als Exporte. Der Hauptgrund für beides: der schwache Euro.

Wie konnte es dazu kommen? In der Vergangenheit wertete eine Währung tendenziell auf, wenn die Leistungsbilanz einen Überschuss aufwies, denn das bedeutete, dass die Nachfrage nach der Währung aus dieser Quelle größer war als das Angebot. Das Argument mag auch heute noch gelten, hat aber offenbar an Kraft verloren: Euroland hat seit langer Zeit einen Überschuss, die USA dagegen seit gefühlt ewigen Zeiten ein Defizit. Die Leistungsbilanzsalden spielen keine Rolle mehr.

Dito die Situation bei den Staatsfinanzen: Je größer das Defizit, je höher die staatlichen Schulden, desto weniger solide die Finanzpolitik. Wenn ein Land es mit dem Schuldenmachen nicht so genau nimmt, folgern die Teilnehmer an den Devisenmärkten, dass es über kurz oder lang versuchen wird, sie durch Monetisierung zu entwerten, also zu Lasten derer, die Vermögen in dieser Währung halten.

Quelle: BörsenZeitung / Sentix

Dadurch entsteht ein Verkaufsdruck, der zu einer Abwertung führt. Stimmt auch nicht mehr: Im Durchschnitt betrug das aggregierte staatliche Haushaltsdefizit Eurolands seit Beginn der Coronakrise 5,2% des BIP, in den USA 10,6% (jeweils einschließlich eines Schätzwerts für 2022). Nach Rechnungen des Internationalen Währungsfonds (IWF) waren – und sind – auch die gesamtstaatlichen Schulden in Relation zum BIP in den USA deutlich höher als im Euroland: aktuell 126% zu 95%. Trotzdem beeindruckt auch das die Devisenmärkte nicht. Unsolide Staatsfinanzen werden trotz dieser Zahlen eher den Ländern des Euroraums unterstellt.

Das Problem ist natürlich, dass die USA ein Staat sind, mit einheitlicher Fiskalpolitik und einem gewaltigen militärischen Apparat, während die Währungsunion nur ein Verbund von – in Kernkompetenzen autonomer – Staaten ist. Dass sie stets zusammenhalten, durch Dick und Dünn, ist keineswegs ausgemacht, wie sich gerade wieder im neuen italienischen Wahlkampf zeigt, und auch vor Kurzem im französischen, oder bei den Alleingängen und Erpressungsversuchen von Ungarn und Polen.

Wenn es ernst wird, müssen die USA zu Hilfe kommen. Kaum ein Anleger scheint zu erwarten, dass Westeuropa einem russischen Angriff auf die baltischen Staaten standhalten kann. Sie werden daher ihr Geld lieber in Dollar als in Euro halten, obwohl die Inflationsaussichten von der Lohnentwicklung her in den USA deutlich schlechter sind als im Euroland.

Dollar zum Euro

Hinzu kommt, dass die amerikanische Zentralbank viel entschlossener gegen die Inflation vorgeht als die EZB, also die Zinsen früher und stärker angehoben hat. Das mag in einer Rezession enden, aber da es am Arbeitsmarkt weiterhin hervorragend läuft, lässt sich die FED nur wenig von dieser Aussicht schrecken. Die US-Leitzinsen dürften noch in diesem Jahr auf etwa 3% steigen und damit das europäische Niveau weiterhin – und um immer mehr – übertreffen. Am amerikanischen Geldmarkt lässt sich mehr Geld verdienen, vor allem in nominaler, weniger in realer Rechnung.

Außerdem ist die Reputation der EZB nicht sonderlich gut: Sie verhält sich nicht, wie man es erwarten sollte, marktneutral, sondern betreibt nebenbei Strukturpolitik, die eigentlich in das Ressort anderer staatlichen Institutionen gehört, indem sie beispielsweise „grüne“ Wertpapiere beim „quantitative Easing“ gegenüber anderen bevorzugt, neuerdings direkt Einfluss nimmt auf die Renditespreads von Anleihen unterschiedlicher Provenienz (Länder), oder Banken dafür belohnt, wenn sie ihre Kreditvergabe über gewisse Mindestwerte hinaus erhöhen. Dass sie viele Monate lang verkündet, sie werde die Leitzinsen in diesem Juli um 25 Basispunkte erhöhen, sie aber stattdessen um 50 anhebt, hat ihren Ruf nicht gerade verbessert.

Müssen wir uns ernsthaft Sorgen um den schwachen Euro machen? Grundsätzlich ist eine starke Währung etwas Wünschenswertes, weil sie die Kaufkraft verbessert und die Wirtschaftsstruktur in Richtung solcher Produkte und Dienstleistungen verändert, die sich trotz hoher Kosten und Preise verkaufen lassen, was wiederum hohe Einkommen garantiert. Auf Dauer lohnt es nicht, ein Billiganbieter zu sein.

Dieter Wermuth

Nach Rezessionen oder in der Frühphase der wirtschaftlichen Entwicklung nützen unterbewertete Währungen, wie zum Beispiel in Deutschland nach dem Krieg. Aber wenn bereits ein großer Kapitalstock vorhanden ist und die Erwerbsbevölkerung gut ausgebildet und motiviert ist – und de facto Vollbeschäftigung herrscht –, macht es keinen Sinn, seine Produkte und Dienstleistungen gewissermaßen zu verschleudern.

Ein fester Wechselkurs bedeutet, sein Angebot ständig verbessern zu müssen. Ein solches Angebot schafft seine eigene Nachfrage – es etabliert Trends und läuft dem Markt voraus, statt ihm mit Billigprodukten hinterher zu hecheln. Mit anderen Worten: Auf Dauer bringt ein schwacher Euro nichts. Dies ist, wie der Leser und die Leserin gemerkt haben wird, ein Plädoyer für rascher steigende europäische Leitzinsen und eine Aufwertung des Euro.

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