Wird die Inflation bald von allein sinken?

Christine Lagarde hat am Donnerstag signalisiert, dass die Leitzinsen in diesem Jahr so lange weiter angehoben werden, bis die Inflation unter Kontrolle ist. Von Dieter Wermuth*

Die EZB sollte nicht zu ehrgeizig sein: Warum die ohnehin schwache Nachfrage und damit die Konjunktur dämpfen, wenn die Ursache der Inflation auf der Angebotsseite liegt? Das Angebot muss erhöht werden, aber das ist nicht Sache einer Zentralbank, sondern der übrigen Wirtschaftspolitik – und keine von heute auf morgen.

Die einzige Rechtfertigung für die angekündigte Strategie ist, dass sich die Inflationserwartungen nicht auf hohem Niveau verfestigen dürfen und daher schnell und aggressiv gehandelt werden muss. Aber das Risiko ist gering, dass wir es inzwischen mit einer schwer zu stoppenden Lohn-Preisspirale zu tun haben, jedenfalls wenn ich mir die Renditen langlaufender Staatsanleihen ansehe (die zehnjährigen Bundesanleihen verzinsen sich mit nur 1,7%), oder die Löhne, wo die neuen Abschlüsse nach wie vor weit unter den aktuellen Inflationsraten liegen, und das trotz der erstaunlich guten Lage am europäischen Arbeitsmarkt – im zweiten Quartal übertraf die Beschäftigung mit 164 Mio. Erwerbstätigen ihren Vorjahresstand um nicht weniger als 2,7%.

Es mehren sich die Anzeichen, dass die Inflationsraten bald sinken werden. Das kommt vor allem daher, weil die gesamtwirtschaftliche Kapazitätsauslastung weiter niedrig bleibt, dass die Nachfrage seit dem Sommer, und nach der neuen Prognose der EZB bis weit in das Jahr 2023 hinein, langsamer zunimmt als das Produktionspotenzial, also die Kapazität.

Ich schätze, dass dessen Trendwachstum seit 2008 bei 1,25% pro Jahr liegt. Das ist eine sehr vorsichtige Annahme. Durch die COVID-Krise war das reale BIP Eurolands um etwa 6% eingebrochen, hatte dann 2021 kräftig aufgeholt und wird 2023 nach den neuesten Prognosen seinen Wert von 2019 um knapp 3% übertreffen. Trotzdem wird die Produktionslücke 2023 größer sein als im Vorkrisenjahr 2019, und vielleicht bei 7% liegen.

Die Unternehmen werden es daher schwer haben, ihre Preise zu erhöhen, ebenso wie sich die Arbeitnehmer fürs Erste mit Lohnerhöhungen unterhalb der aktuellen Inflationsrate zufriedengeben müssen. Es ist noch lange nicht alles gut, und die Inflation wird nicht aus dem Ruder laufen.

Dazu ein paar anekdotische Beobachtungen, die diese These stützen: In China, einem Land, das ebenfalls stark auf Energieimporte angewiesen ist, sind die Verbraucherpreise im Vorjahresvergleich im August um 2,5% gestiegen, nach 2,7% im Juli, die Erzeugerpreise nur um 2,3%, nach 4,2% im Vormonat; ähnliches tut sich in Japan.

Der Preis für ein Fass Erdöl der Sorte Brent ist zuletzt auf 90 USD gefallen und damit um 30% gegenüber seinem Hoch vom Juni; sogar die Weizenpreise sind in den vergangenen Monaten eingebrochen, trotz der Angst, dass es demnächst zu einer globalen Hungerkatastrophe kommen könnte. Die deutsche Inflationsrate ex Energie und Nahrungsmittel, also die Kernrate, hat sich in den vergangenen drei Monaten auf 3,4% verlangsamt. Der Einbruch der realen Haushaltseinkommen hat in Deutschland und im übrigen Europa einen Nachfrageschock ausgelöst.

Für einen Rückgang der Inflationsraten spricht zudem, dass die europäischen Sparer gerade beträchtliche Vermögensverluste erleiden, sich dadurch ärmer fühlen und der Euro daher nicht mehr so locker sitzt.

Am Bondmarkt sind die Renditen im Verlauf des vergangenen Jahres von -0,5% auf +1,7% gestiegen (zehnjährige Bundesanleihen), was einem Kursverlust von mehr als 20% entspricht. Das tut weh.

Was die Aktien angeht, bedeutet ein Anstieg des allgemeinen Zinsniveaus, wie wir ihn gerade erleben, dass der auf die Gegenwart abdiskontierte Wert künftiger Gewinne (der Barwert) stark gesunken ist. Soweit dies die wichtigste Determinante der Aktienkurse ist, kann ich nur staunen, wie gut sich der Markt gehalten hat. Nicht zu vergessen, die Gewinne selbst dürften wegen der beginnenden Rezession oder der Stagnation des realen Sozialprodukts unter Druck geraten. Da die Kurs-Gewinnverhältnisse nach wie vor sehr hoch sind, besteht erheblicher Korrekturbedarf.

Und die Immobilienpreise? Zusammen mit der Tatsache, dass in den letzten Jahren kräftig gebaut wurde, wird der starke Anstieg der Finanzierungskosten dafür sorgen, dass sie eher sinken als steigen. Allein der Zustrom der Flüchtlinge aus der Ukraine (in Deutschland bisher etwas mehr als 1 Mio.) wird einen freien Fall der Preise verhindern.

Dieter Wermuth

Noch glauben die Analysten der EZB nicht, dass die Inflation vor einer Trendwende steht, jedenfalls nicht offiziell. Es gilt erst einmal, den ramponierten Ruf durch einige große Zinsschritte zu verbessern und damit auch die peinliche Schwäche des Euro zu beenden. Die ‚Forward Guidance‘ hat ausgedient, nachdem die selbstbewusste Vorankündigung der Leitzinsen spektakulär gescheitert ist. Die Datenlage bestimmt ab sofort die künftige Geldpolitik.

*) Dieter Wermuth ist Economist und Partner bei Wermuth Asset Management

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