Gedanken zur De-Growth-Empfehlung

Die De-Growth-Empfehlung kann ja wohl nur für Länder gelten, die bereits wohlhabend sind – von Dieter Wermuth*

Wie lässt sich vermeiden, dass es auf der Erde immer wärmer wird und es am Ende zu einer Klimakatastrophe kommt? Die Antwort besteht bisher vor allem aus technischen Lösungen, Elektroautos und Wärmepumpen zu subventionieren, Windräder aufzustellen, freie Flächen mit Solarpaneelen zu bedecken, die Speichertechnik zu fördern, neue Hochspannungs-leitungen zu bauen.

Mir kommt dabei ein Zitat von Einstein in den Sinn: Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind. Außerdem wird in die Nachfragestruktur eingegriffen, indem die Emission von CO2 verteuert und CO2-intensiver Konsum und CO2-intensive Produktion verboten oder erschwert wird.

Ich will im Folgenden drei andere, fundamentalere Ansätze vorstellen. Sie nehmen die Nachfrage nach Rohstoffen und Ressourcen im Allgemeinen ins Visier und kommen zu der Empfehlung, einfach bescheidener zu leben, nicht so viel zu arbeiten (Keynes), oder sie sehen die langfristige Lösung in einem langsameren Wachstum der Weltbevölkerung, gefolgt von einem Rückgang, sowie einer bewusst herbeigeführten Umkehr des Wirtschaftswachstums (De-Growth oder Degrowth).

Im Jahr 1930, also vor fast einem Jahrhundert, hatte Keynes in einem Essay mit dem Titel „Economic Possibilities for our Grandchildren“ eine Zukunft beschrieben, in der infolge des Produktivitätsfortschritts und des Wunders des Zinseszinses die Grundbedürfnisse der Menschen – aller Menschen! – befriedigt sein würden, vorausgesetzt das Wachstum der Bevölkerung könne begrenzt und Kriege vermieden werden, und dass den Erkenntnissen der Wissenschaft gefolgt und ein genügend großer Teil des Einkommens in den Kapitalstock investiert würde.

Der Zweite Weltkrieg war auf dem Weg in die glückliche Zukunft, die er sich vorgestellt hatte, bekanntlich dazwischengekommen, aber seit 1945 herrscht zumindest in Europa und in Amerika Frieden, und es hat bisher keinen weiteren Weltkrieg gegeben. Dazwischen gekommen ist allerdings zudem ein für ihn wohl nicht erwarteter starker Anstieg der Weltbevölkerung, von 2 Mrd. im Jahr 1929 auf aktuell mehr als 8 Mrd.. Dass es durch das exponentielle Wachstum des globalen Sozialprodukts und der Bevölkerung am Ende Probleme mit dem Klima und den Lebensbedingungen auf diesem Planeten geben könnte, war Keynes damals nicht eingefallen.

Er hatte sich vorgestellt, dass sich die Menschen, vor die Wahl gestellt, zunehmend für mehr Freizeit statt mehr Geld auf dem Konto entscheiden würden, nachdem sie sich keine Sorgen mehr über ein Dach über dem Kopf und die sonstigen Grundbedürfnisse machen müssten. Nachdem der Kampf ums Überleben gewonnen sei – in 100 Jahren, also heute –, könnte der typische Arbeitstag auf drei Stunden, die typische Arbeitswoche auf 15 Stunden begrenzt werden. Denn arbeiten muss der Mensch noch für einige Zeit, weil es der alte Adam so will – sonst käme er auf dumme Gedanken. Die Frauen der reichen Engländer und Amerikaner, die in Haus und Hof keine Aufgaben mehr hätten, seien ein abschreckendes Beispiel dafür, wohin Müßiggang führt, wenn jemand keine Aufgaben mehr hat.

Im friedlichen Westeuropa sind wir in der Tat fast da angekommen, wo wir nach den Zinseszinsrechnungen von Keynes jetzt sein sollten. Die Menschen haben im Durchschnitt so viel Geld, dass sie sich immer mehr Freizeit leisten könnten. Tun sie das auch?

Die Antwort ist ein klares Ja, aber nicht in dem Maße, wie Keynes es sich vorgestellt hat. Alte Gewohnheiten lassen sich nicht so leicht abschütteln, der Wunsch nach immer mehr Konsumgütern ist nach wie vor stark, nach zusätzlichen und größeren Autos, nach zusätzlichen und größeren Wohnungen und einem aufwendigen Lebensstil. Man will die Nachbarn beeindrucken – keep up with the Joneses! Es geht daher nur langsam voran mit der Zunahme der Freizeit.

In Deutschland ist die Jahresarbeitszeit eines durchschnittlichen Erwerbstätigen in den vergangenen 50 Jahren immerhin um etwa 30% zurückgegangen, in Japan um 27%, in Frankreich um 24%. Keynes hatte eher einen Rückgang um 70% erwartet. Die Zahlen sollten allerdings nicht zum Nennwert genommen werden: Sie sind nicht so positiv, wie sie auf den ersten Blick erscheinen: Zu einem großen Teil reflektieren sie die Tatsache, dass sich immer mehr Frauen in den vergangenen Jahrzehnten am Erwerbsleben beteiligt haben – und die haben aus nachvollziehbaren Gründen eine Vorliebe für Teilzeitjobs. So groß ist also der tatsächliche Fortschritt selbst in Deutschland oder Japan nicht.

In den USA, dem reichsten der großen OECD-Länder, betrug der Rückgang der Arbeitszeit dagegen nur 7%. Einer der Gründe ist vermutlich, dass die staatliche und betriebliche Alterssicherung unterentwickelt ist und die Menschen im Allgemeinen fürchten, dass sie im Alter finanziell nicht zurechtkommen könnten. Mehr als zwei Wochen im Jahr Urlaub zu nehmen, gilt beinahe schon als asozial. Nicht zuletzt deswegen sind die Vereinigten Staaten auf pro-Kopf-Basis aber auch der größte Zerstörer der Umwelt. Daran wird sich wohl nur etwas ändern, wenn aus dem Land eines Tages ein Sozial- und Mehrparteienstaat nach europäischem Vorbild wird. Das klingt leider sehr nach Wunschdenken.

Der Club of Rome hatte 1972 in seinem Bericht über die Grenzen des Wachstums unter anderem den naheliegenden Vorschlag gemacht, das Bevölkerungswachstum zu bremsen, etwa indem jeder Frau, die in ihrem Leben nur ein Kind zur Welt bringt, eine attraktive Geldprämie gezahlt wird. Weniger Menschen, weniger Ressourcenverbrauch, eine bessere Umwelt. Es dürfte aber auch ohne solch drastische Maßnahmen bei der Weltbevölkerung in den nächsten Jahrzehnten zu einer Trendwende kommen, vor allem weil die Anzahl der Geburten negativ korreliert ist mit dem Pro-Kopf-Einkommen – das aller Voraussicht global weiter kräftig zunimmt (wenn auch nur im Durchschnitt).

Zurzeit liegt die Fruchtbarkeitsrate der Welt bei 2,31; vor 50 Jahren betrug sie noch 4,55. Erst wenn sie weiter bis auf unter 2,1 sinkt, den Wert, bei dem die Bevölkerung stagniert, endet auch das Bevölkerungswachstum der Welt. Nach den aktuellen Prognosen der UN Population Division wird die Weltbevölkerung um das Jahr 2080 einen Höchststand von 10,5 Mrd, erreichen und dann langsam sinken. Das ist angesichts der Dringlichkeit des Klimaproblems ein viel zu langer Zeitraum.

Vielleicht sollte die Politik doch versuchen, aktiv auf die Geburtenraten einzuwirken, und zwar mit Anreizen statt Verboten. Es muss ja nicht so sein wie bis vor Kurzem in China. Den bei weitem größten Handlungsbedarf gibt es in Afrika: In Nigeria und Äthiopien, den beiden bevölkerungsreichsten Länder des Kontinents, bringen Frauen aktuell im Durchschnitt zwischen vier und fünf Kinder zur Welt, und höchstwahrscheinlich nicht, weil sie sich das so wünschen. In Indien beträgt die Reproduktionsrate zurzeit 2,0, in China nur 1,2 (obwohl die Frauen dort inzwischen drei Kinder haben dürfen). Fortschritt ist also möglich. Jede Kosten-Nutzen-Analyse kommt in den armen Ländern zu dem Ergebnis, dass eine Kontrolle des Bevölkerungswachstums das Gebot der Stunde ist.

Zum Schluss einige Anmerkung zu den Vertretern des Degrowth-Ansatzes. Es ist mehr oder weniger eine Banalität, dass der Verbrauch von Ressourcen zurückgeht, wenn die Wirtschaft, gemessen am realen Bruttoinlandsprodukt, schrumpft. Dann würde auch die Umwelt weniger belastet. Dieser Vorschlag wird von den meisten Volkswirten, fast allen Unternehmen und der breiten Bevölkerung als Hirngespinst abgetan: Er führe zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit und einem Rückgang des allgemeinen Wohlstands. Wie das Beispiel Japan zeigt, muss das nicht so sein: In den dreißig Jahren bis 1990 war das reale BIP dort im Durchschnitt um 6,4% gestiegen, in den 31 Jahren seitdem nur um 0,7%. Wenn das nicht Degrowth ist! Von sozialen Unruhen wurde bisher noch nicht berichtet, und die Arbeitslosenquote beträgt nur 2,6%. Es ist also machbar.

Wichtig scheint mir, dass es in Japan einen starken gesellschaftlichen Zusammenhalt und gelebte Solidarität gibt. In Deutschland bewegen wir uns im Übrigen beim Wachstumstrend ebenfalls in Richtung Null, ohne dass es dadurch bisher zu Aufständen gekommen ist. Nach der Methode der Genfer ILO (International Labour Organisation) liegt die Arbeitslosigkeit bei rekordniedrigen 2,9% (Ich frage mich allerdings, ob die Beispiele Japans und Deutschlands als Degrowth durchgehen können – es gibt ja immerhin noch etwas Wachstum. Außerdem kann die Degrowth-Empfehlung ja wohl nur für Länder gelten, die bereits wohlhabend sind.)

Wenn der Lebensstandard nur hoch genug ist, ist weiteres materielles Wachstum offenbar nicht mehr so wichtig. Je reicher ein Land, desto unwichtiger und tendenziell umso geringer das Wirtschaftswachstum – und umso besser für die Umwelt. Die Degrowther sind keine Spinner.

Das Hauptproblem besteht darin, dass Länder wie die USA, China oder Russland mit einer solchen Strategie nichts zu tun haben wollen und weiter voll auf wirtschaftliche Expansion und Aufrüstung setzen. Was machen da die Degrowth-Länder? Wieder kommt mir ein Spruch in den Sinn, diesmal von Schiller: Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt. Eine (umweltfreundliche) Degrowth-Strategie in Isolation kann sehr gefährlich sein und wird erst dann ernsthaft in Erwägung gezogen werden können, wenn irgendwann einmal allseits Frieden herrscht. Eigentlich schade.

Dieter Wermuth

*) Dieter Wermuth ist Economist und Partner bei Wermuth Asset Management

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