Wiedereinführung der Mehrstimmrechtsaktie – Können gründergeführte Start-ups ihre Zukunft bald mit einer Idee aus der Vergangenheit über die Börse finanzieren?

Meike Dresler-Lenz, RAin, Heuking

Der Law Corner Beitrag von Meike Dresler-Lenz, Senior Associate, Heuking Kühn Lüer Wojtek, Köln

Mehrstimmrechtsaktien gewähren mehr Stimmrechte, als es ihrem Anteil am Grundkapital der Gesellschaft entspricht. Ihr Inhaber hat damit überproportionalen Einfluss auf alle Hauptversammlungsbeschlüsse, für die keine Kapitalmehrheit erforderlich ist. In Deutschland sind sie seit 1937 grundsätzlich und seit 1998 ausnahmslos verboten. Das Stimmrecht wird nach Aktiennennbeträgen, bei Stückaktien nach deren Zahl ausgeübt. Einzig mögliche Ausnahmen sind stimmrechtslose Vorzugsaktien oder (außerhalb des regulierten Markts mögliche) Höchststimmrechte, die auch bei höherem Kapitalanteil nicht überschritten werden können.

Am 7. Dezember 2022 hat die EU-Kommission mit dem Listing Act u.a. den Vorschlag vorgelegt, Unternehmen, die einen Börsengang in einem KMU-Wachstumssegment anstreben, in allen EU-Mitgliedstaaten die Ausgabe von Mehrstimmrechtsaktien zu gestatten. In Deutschland sieht der am 12. April 2023 vorgestellte Referentenentwurf eines Zukunftsfinanzierungsgesetzes (‚ZuFinG‘) vor, dass eine AG, SE oder KGaA auch außerhalb von KMU-Wachstumsmärkten Namensaktien mit Mehrstimmrechten ausgeben kann. Aber die mögliche Wiedergeburt der deutschen Mehrstimmrechtsaktie ist umstritten.

In anderen Rechtsordnungen ist das anders. Vor allem in den USA sind den Gründern Mehrstimmrechtsaktien bei Börsengängen häufig vorbehalten. Prominente Beispiele sind Google und Facebook. Knapp die Hälfte aller Tech-IPOs der Jahre 2021 und 2022 waren Unternehmen mit Mehrstimmrechtsaktien. Studien zeigen zudem, dass die Kurse von Unternehmen mit diesem Zwei-Aktienklassen-Modell nach dem Börsengang überdurchschnittlich steigen. Ein Grund könnte der fortdauernde Einfluss der Gründerpersönlichkeiten sein.

Die deutschen Vorbehalte gegenüber dem andernorts beliebten Instrument sind auf die Erfahrungen mit dessen missbräuchlicher Nutzung in den Anfangsjahren der Weimarer Republik zurückzuführen. Mit dem Argument des Schutzes vor ‚Überfremdung‘ geschaffene Mehrstimmrechtsaktien für Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder führten damals einige Unternehmen in die Krise, da das Management mangels wirksamer Kontrolle durch die Investoren nicht die nötige Sorgfalt walten ließ.

Die Urheber des ZuFinG haben ihre Lektion gelernt und die Mehrstimmrechte mehrfach eingeschränkt:

• Die Mehrstimmrechtsaktien dürfen höchstens zehnfaches Stimmrecht haben.

• Zu ihrer Einführung ist die Zustimmung aller betroffenen Aktionäre erforderlich. Sie kommt also praktisch nur vor dem Börsengang in Frage.

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• Bei börsennotierten Gesellschaften erlöschen die Mehrfachstimmrechte mit der Übertragung der Aktie, spätestens jedoch zehn Jahre nach dem Börsengang, wenn die Satzung keine kürzere Frist vorsieht. Die Frist kann frühestens ein Jahr vor Ablauf durch einen Hauptversammlungsbeschluss mit einer Mehrheit von 3/4 des bei der Beschlussfassung vertretenen Grundkapitals um bis zu zehn weitere Jahren verlängert werden. Die Satzung kann eine größere Kapitalmehrheit und weitere Erfordernisse vorsehen.

• Es besteht auch die Möglichkeit, die Mehrfachstimmrechte nach § 179 AktG mit zusätzlichem Sonderbeschluss der Mehrstimmrechtsaktionäre zu beseitigen.

Die Wiedereinführung von Mehrstimmrechtsaktien ist trotzdem nicht ohne Risiko, aber sie würde nicht nur bei Börsengängen, sondern auch für den Generationswechsel in Familienunternehmen interessante Gestaltungsmöglichkeiten eröffnen – vorausgesetzt, dass auch abseits der Börse eine freiwillige Personenbezogenheit und/oder zeitliche Begrenzung der Mehrfachstimmrechte möglich ist. Ferner sollte der Gesetzgeber für börsennotierte Familienunternehmen eine Ausnahme vom Erlöschen der Mehrfachstimmrechte durch Übertragung ermöglichen, wenn die Aktien im Wege der (vorweggenommenen) Erbfolge übertragen werden.

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Möglicherweise sind weitere Einschränkungen der Zulässigkeit des Mehrfachstimmrechts sinnvoll. So sollte z.B. der Gründer, der selbst im Vorstand sitzt, nicht die Wahl der Aufsichtsratsmitglieder überproportional beeinflussen können. Auch ist zu prüfen, ob nicht der Anteil des Grundkapitals, für den Mehrstimmrechte vorgesehen werden können, oder die Möglichkeit zur Kombination von Mehrstimmrechten und Vorzugsaktien begrenzt werden muss.

Fazit
Alles in allem scheint der Vorschlag für eine Neuregelung der Mehrstimmrechte noch nicht ganz ausgereift, aber im Ansatz durchaus zu begrüßen. Es bleibt allerdings abzuwarten, ob der europäische Markt auf die Zwei-Klassen-Aktienstruktur ähnlich positiv reagiert wie der amerikanische oder ob das Modell mit Kursabschlägen beim IPO oder zu dem Zeitpunkt, zu dem der Gründereinfluss endet, bezahlt wird.

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