Die Produktivität nimmt immer langsamer zu – halb so schlimm!

Der Rückgang des Wachstums der Produktivität in vergangenen Jahrzehnten ist weniger dramatisch, als es auf den ersten Blick erscheint. Von Dieter Wermuth, Economist und Partner bei Wermuth Asset Management

Die goldenen Jahre des Wirtschaftswunders, vom Ende des zweiten Weltkriegs bis zum 16. Oktober 1973, als die OPEC ihr erstes Ölembargo verkündete, sind vorbei und werden nie mehr zurückkehren, so der Produktivitätsguru Robert Gordon von der Northwestern University.

Die durchschnittliche jährliche pro-Kopf-Wachstumsrate des realen Bruttoinlandsprodukts der USA lag von 1950 bis zu diesem Ereignis bei 2,7%, in Deutschland sogar bei 5,0%. Seitdem hat die Dynamik deutlich und, wenn Gordon recht hat, auch dauerhaft nachgelassen: In den 48 folgenden Jahren lag der Durchschnitt in Amerika bei 1,7%, in Deutschland bei 1,5%, Tendenz: weiter fallend.

Seit Ende 2019, unmittelbar vor Beginn der Coronakrise, hat die Arbeitsproduktivität in den beiden Ländern sogar nur um jährlich 1,2 und 1,1% zugenommen.

Bemerkenswerterweise war es dabei nicht von Vorteil, dass die USA einen außerordentlich flexiblen Arbeitsmarkt haben, gekennzeichnet durch Hire & Fire. In Deutschland, wo Wert auf eine stabile Beschäftigung und die Bewahrung des Humankapitals gelegt wird, war das Endergebnis, was die Entwicklung der Produktivität angeht, in etwa das Gleiche.

Dass das reale BIP Deutschlands dennoch so viel langsamer zugenommen hat als das der USA, spiegelt die Tatsache wider, dass zwar per Saldo im Verlauf der Krise kaum Leute entlassen wurden, dafür aber die bezahlte Arbeitszeit und die Einkommen der Arbeitnehmer kräftig fielen.

Der Rückgang des trendmäßigen Produktivitätswachstums in den vergangenen Jahrzehnten ist weniger dramatisch, als es auf den ersten Blick erscheint. Wie die beiden Nobelpreisträger Banerjee und Duflo in ihrem 2019 erschienenen Buch „Good Economics for Hard Times“ berichten, lag das pro-Kopf Wachstum des Westens in der vorindustriellen Zeit, von 1500 bis 1820, bei dürftigen 0,14% pro Jahr, beschleunigte sich dann im Verlauf der industriellen Revolution bis 1900 auf 1,24%, dann auf 2,00% in der Zeit danach (S. 152). Mit anderen Worten: Das verlangsamte Wachstum seit 1973 ist im Grunde nur die Rückkehr zu früher üblichen, sehr geringen Zuwachsraten.

Warum die Produktivitätsschwäche? Es hat in den vergangenen Jahrzehnten keine Innovationen gegeben, die mit der allgemeinen Einführung der Elektrizität oder des Verbrennungsmotors gegen Ende des 19. Jahrhunderts vergleichbar gewesen wären. Facebook, Computerspiele, künstliche Intelligenz, GPS oder 3D-Drucker? Nichts wirklich Bahnbrechendes.

Gordon glaubt übrigens, dass die Social Media mitverantwortlich sind für die aktuelle Produktivitätsflaute – die Leute verplempern zu viel Zeit im Internet, auch wenn sie dadurch vielleicht glücklicher werden. In die Berechnung des BIP gehen bekanntermaßen nur Aktivitäten ein, die über den Markt laufen, also Preise haben. Aber so zynisch es klingen mag, bisher hat noch niemand eine gute Alternative zum BIP als Wohlstandsmaß entwickelt.

Wie sich die Zunahme der Produktivität und damit des allgemeinen Wohlstands beschleunigen lässt, ist eine der größten intellektuellen Herausforderungen für Ökonomen. Fest steht, dass ein vermehrter Einsatz von Kapital und Arbeit weniger als die Hälfte der Zuwachsrate der sogenannten Total Factor Productivity erklärt.

Viel sparen und investieren hilft, auch mehr arbeiten, aber der Rest wird bestimmt durch „weiche“ Faktoren: wie sich die berufliche Qualifikation der Erwerbsbevölkerung entwickelt, wie aufgeschlossen eine Gesellschaft gegenüber Zuwanderern aus dem Ausland ist, durch die Art und Weise, wie die Wertschöpfung organisiert wird (wie wenig Ressourcen verschwendet werden), ob es einen Zugang zu billiger Energie und billigen Rohstoffen gibt, durch einen gesunden Wettbewerb, einschließlich offener Grenzen, und wie stabil und fair die politische Infrastruktur ist.

Dieter Wermuth

Es ist eine lange Liste. Eine automatische Konvergenz der ärmeren mit den reicheren Ländern gibt es nicht, aber Japan, Süd-Korea, Taiwan, Singapur und bis vor kurzem auch China haben gezeigt, dass es möglich ist.

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