Börsenweisheiten begünstigen Wahrnehmungsverzerrung

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Der Mai ist eine gute Gelegenheit, das eigene Verhalten an der Börse kritisch zu hinterfragen. Denn eine der bekanntesten Börsenweisheiten lautet: „Sell in May and go away“. Und spricht nicht angesichts hoher Indexstände alles dafür, zu verkaufen und abzuwarten? „Nein, hier lassen sich die Menschen nur von ihren Gefühlen leiten, die Ratio spricht eindeutig dagegen“, sagt Nikolas Kreuz, Geschäftsführer der INVIOS GmbH.

Ganz grundsätzlich treten saisonale Muster aufgrund der Irrationalität der Akteure auf. Im Falle der „Sell-in-May“-Regel liegt die Wahrscheinlichkeit bei rund 20%. „Etwas mehr ist es vielleicht, denn die so plakativ einfache Mai-Verkaufsregel hat eine Eigendynamik entwickelt. Sie ist zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung geworden. Letztlich ist es eine Wahrnehmungsverzerrung des menschlichen Gehirns, das das Unwahrscheinliche in der Wahrnehmung überschätzt“, so Kreuz.

„In der Neuro-Finance wird dieses Phänomen als Certainty- oder Possibility-Effekt, im Deutschen auch als Sicherheitseffekt bezeichnet“, sagt Kreuz. Es handelt sich dabei um eine kognitive Verzerrung, eine Täuschung des Gehirns anhand von Zahlen. „So wird eine Wahrscheinlichkeit als höher gesehen, wenn damit ein Schwellenwert erreicht wird“, sagt Kreuz. Menschen nehmen etwa den Sprung von 99% Wahrscheinlichkeit auf 100 als wesentlich stärker wahr als den von 50 auf 51%. „Damit ließe sich aber immerhin absolute Sicherheit erreichen“, sagt Kreuz. „Trotzdem sehen Menschen auch den Sprung von null auf ein Prozent als größer an als den von 50 auf 51%.“

So verhält es sich auch mit der „Mai-Regel”. „Obwohl der Erfolg eher unwahrscheinlich ist, wird doch die 20%ige Wahrscheinlichkeit höher gewichtet als die 80%, die dagegen sprechen“, sagt Kreuz. „Die Menschen messen unwahrscheinlichen Ereignissen irrational viel Gewicht bei, wenn sie nur so einfach und verständlich wie ‚Sell in May‘ daherkommen.“ Im vergangenen Jahr hat beispielsweise diese vermeintliche Börsenweisheit für Investoren überhaupt nicht funktioniert.

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Nun könnte 2021 ein Jahr sein, in dem sich die Regel im Nachhinein als richtig erweist. „Der Dax notiert wie andere Indizes auch auf oder nahe seinem Höchststand“, so Kreuz. „Da besteht ganz grundsätzlich eine Versuchung, jetzt zu verkaufen.“ Auf der anderen Seite sind genau diese Entscheidungen dann angesichts der Herde, die möglicherweise in die gleiche Richtung rennt, nichts weiter als ein zyklisches Mitlaufen. „Langfristig zahlt es sich aus, antizyklisch zu agieren, und das bedeutet momentan mit mittel- bis langfristiger Anlageperspektive: nicht verkaufen“, so Kreuz.

Denn das Umfeld für Aktien ist ideal: Die Geldpolitik ist locker wie selten, riesige Konjunkturpakete lösen zusätzliche Multiplikatoreneffekte aus, der Konsum zieht an, die Arbeitslosigkeit sinkt. Dazu kommt, dass die langsam, aber sicher voranschreitende Durchvakzinierung zumindest der westlichen Welt Nachholeffekte in allen Volkswirtschaften auslösen wird. „Bei vielen Unternehmen wurden die Konsens- und Flüsterschätzungen weit übertroffen“, sagt Kreuz. Die Frühindikatoren und das Sentiment bestätigen dieses mikro- und makroökonomische Szenario. „Das darf trotzdem nicht zu Sorglosigkeit verleiten“, so Kreuz. „Stoppkurse sollten nachgezogen und angepasst werden.“ Und es gelte viel mehr als die bekannte Börsenregel „Sell in May“ der weniger bekannte Grundsatz, dessen Umsetzung dem menschlichen Gehirn oft Unbehagen bereitet, der aber deutlich erfolgreicher ist: „Buy the Dip“ – Nachkaufen bei Kursrücksetzern.

Nikolas Kreuz, INVIOS

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