Werden Aktien weiter fallen?

Seit Jahresbeginn sind die wichtigsten europäischen und amerikanischen Aktienindices rund 20% gesunken. Noch gibt es keine Anzeichen für eine Trendwende – von Dieter Wermuth*

Das ist vor allem eine Folge der stark gestiegenen Energiepreise und des damit stark gestiegenen Risikos, dass die Welt vor einer neuen Rezession steht. Die Gewinne der Unternehmen werden unter Druck kommen, und mit ihnen die Aktienkurse.

Seit 1960 gab es acht Phasen sehr schwachen Wirtschaftswachstums; vier davon, die besonders ausgeprägten, folgten jeweils auf einen rapiden Anstieg der Preise für Rohöl und Erdgas: 1974/75, 1980/82, 2001/02 und 2009.

Diesmal hat sich Energie innerhalb kurzer Zeit erneut drastisch verteuert, vor allem Gas, dessen Preis seit 2020 von etwa 15 USD pro Megawattstunde auf jetzt rund 170 USD gestiegen ist, ein Plus von mehr als 1.000%.

Die Produzenten und Exporteure von Kohle, Gas und Erdöl erzielen dadurch natürlich hohe Gewinne, aber weil sie deutlich in der Minderheit sind, handelt es sich für die Weltwirtschaft insgesamt um einen gewaltigen Verlust an Kaufkraft – der wiederum höchstwahrscheinlich der Auslöser für eine globale Rezession sein wird.

Da Haushalte und Unternehmen kurzfristig kaum in der Lage sind, ihre Energienachfrage nachhaltig einzuschränken, schlägt die Preisexplosion an den Weltmärkten fast ungebremst auf die Preise des Endverbrauchs durch. Nur da, wo es bereits hohe Steuern und Einfuhrzölle auf Energie gibt, ist der Effekt, relativ gesehen, etwas milder.

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Inzwischen wird erwartet, dass private Haushalte in den OECD-Ländern im Jahr 2022 etwa 8% mehr für ihren Konsum ausgeben müssen als 2021, viel mehr als sie an Lohnerhöhungen erwarten können. Für sie ist es ein Schock.

Gleichzeitig befürchten die Zentralbanken, dass sich eine Inflationsmentalität breitmachen könnte, wenn jetzt die Arbeitnehmer nach jahrelanger Zurückhaltung darangehen, den drastischen Rückgang ihrer Reallöhne in den kommenden Verhandlungen wettzumachen.

Sie befinden sich fast durchgängig in einer guten Verhandlungsposition, ablesbar an der bis zuletzt erstaunlich starken Zunahme an Jobs und der oftmals rekordniedrigen Arbeitslosigkeit. Bekanntlich sind die Löhne, insbesondere die sogenannten Lohnstückkosten (= Löhne minus Arbeitsproduktivität), der beste Prädiktor für die künftige allgemeine Inflation.

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Wenn es hier zu einer Trendwende kommt, sind gefährliche Zweitrundeneffekte sicher wie das Amen in der Kirche. Die Fed und die EZB befinden sich daher in einer Zwickmühle: Obwohl sie wissen, dass die hohen Energiepreise erfahrungsgemäß eine Rezession nach sich ziehen und die Inflation auf diese Weise von allein verschwinden dürfte (wofür es aktuell erste Anzeichen gibt), sind sie sich dessen nicht so sicher.

Die Bevölkerung ist jedenfalls höchst beunruhigt und drängt, etwas gegen die Inflation zu unternehmen. Das passiert. Die Wende in der Geldpolitik ist inzwischen eingeläutet, die Zinsen steigen.Weil am Markt erwartet wird, dass die Federal Funds Rate, der amerikanische Leitzins, von jetzt 1,5% bis 1,75% per Ende 2022 auf 3,25% bis 3,5% steigen wird (was dann der höchste Wert in diesem Zyklus sein soll), hat sich die gesamte Zinskurve der USA seit Jahresbeginn deutlich nach oben verschoben und ist sehr flach geworden. Danach zu urteilen gehen Schuldner und Sparer offenbar davon aus, dass die Inflation nicht außer Kontrolle geraten wird.


Die EZB lässt sich mehr Zeit und nimmt hin, dass der Euro in letzter Zeit eine Schwachwährung geworden ist und tendenziell die Inflation weiter anheizt. Geht es nach den Marktteilnehmern sowie dem, was die EZB selbst verkündet, wird der Leitzins von jetzt 0% bis zum ersten Quartal 2023 auf 1,25% steigen, bleibt also niedrig.

Da zehnjährige Bundesanleihen gegenwärtig eine Rendite von etwa 1,35% haben, ist die aktuelle Zinskurve sehr steil und wirkt damit weiterhin extrem expansiv. Das Ziel scheint zu sein, die Zügel etwas anzuziehen, aber nicht wirklich restriktiv zu wirken. Es ist überhaupt nicht klar, auf welche Weise die EZB beabsichtigt, die Inflation in die Nähe ihres Zielwerts von 2% zu bringen. Die kommende Rezession wird’s schon richten?

Sicher ist, dass die Sätze, mit denen künftige Unternehmensgewinne auf die Gegenwart abdiskontiert werden und so den Aktienkurs bestimmen, im Steigen begriffen sind und zu den Kursverlusten beitragen.Rezessionsgefahren, steigende Kapitalkosten, rekordhohe Schulden von Haushalten, Unternehmen und Regierungen sowie immer noch sehr ambitionierte Bewertungen von Aktien, Bonds und Immobilien ergeben eine gefährliche Mischung, in den USA mehr als im Euroraum.

griechische Schuldenkrise Griechenland

Wenn jetzt die Umsätze der Unternehmen in der Rezession zurückgehen und gleichzeitig die Kosten von Eigen- und Fremdkapital steigen, dürften immer mehr Firmen Konkurs anmelden, ohne dass die bereits jetzt überforderte Finanzpolitik viel dagegen tun kann. Daraufhin werden viele Anleger versuchen, vor dem drohenden Unheil zu flüchten und ihre Schäfchen ins Trockene zu bringen. Von diesem Kipppunkt an, auch Minsky-Moment genannt, kann es leicht zu einer Panik, also einem Ausverkauf von handelbaren Assets kommen. Ein weiterer Einbruch der Aktienkurse wäre die Folge. 50%? Oder mehr, wie 1929 bis 1938?

Ich muss zugeben, dass ich mir das schon mehrmals so ausgemalt habe, ohne dass es tatsächlich zu einem Worst-Case-Szenario gekommen wäre. Finanzkrisen sind ein zentrales Element der kapitalistischen Wirtschaft, und die Märkte finden nicht immer von allein zum Gleichgewicht zurück.

Dieter Wermuth

Es kann also passieren. Aber der ganz große Ausverkauf ist doch eher selten. In einer alternden Gesellschaft, in der immer mehr Menschen erwarten, in höherem Alter von Erspartem leben zu müssen, gibt es offenbar zu jedem Zeitpunkt genug anlagebereite Mittel, die letztlich den freien Fall aller Märkte verhindern.

Die obige Analyse sollte daher eher als eine Warnung denn als Prognose verstanden werden.

*) Dieter Wermuth ist Economist und Partner bei Wermuth Asset Management


Über Wermuth Asset Management

Wermuth Asset Management (WAM) ist ein Family Office, das auch als BAFIN-regulierter Anlageberater tätig ist. Das Unternehmen hat sich auf klimawirksame Investitionen über alle Anlageklassen hinweg spezialisiert, wobei der Schwerpunkt auf EU-„exponentiellen Organisationen“ nach der Definition der Singularity University liegt, d.h. Unternehmen, die ein großes Problem der Menschheit profitabel lösen und exponentiell wachsen können. Das Unternehmen investiert über eigene und fremde Fonds in Private Equity, börsennotierte Anlagen, Infrastruktur und Sachwerte. WAM hält sich an die UN Principles of Responsible Investing (UNPRI) und den UN Compact und ist Mitglied der Institutional Investor Group on Climate Change (IIGCC), des Global Impact Investing Network (GIIN) und der Divest-Invest-Bewegung. Jochen Wermuth gründete WAM im Jahr 1999. Er ist ein deutscher Klimafolgeninvestor, der im Lenkungsausschuss von „Europeans for Divest Invest“ tätig war. Seit Juni 2017 ist er auch Mitglied des Anlageausschusses für den 24 Milliarden Euro schweren kerntechnischen Entsorgungsfonds (KENFO).

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