Die Corona-Pandemie – wie ein Risiko durch soziokulturelles Menschenverhalten außer Kontrolle gerät

Prof.Christian Drosten-Direktor Institut für Virologie @Charité

Der Vorsitzende des Weltärztebundes, Frank Ulrich Montgomery, war jedoch anderer Meinung: „Wir müssen aufhören, Panik zu machen. Das Virus kann bei manchen Menschen zu schweren Erkrankungen führen. Bei über 80% führt es aber nur zu erkältungsähnlichen Symptomen. Dies ist aber nicht der Weltuntergang!“ Ähnlich wie Herr Montgomery äußert sich die Landessanitäsdirektion in Tirol als nach den ersten positiven Testergebnissen im Ski-Ort Ischgl. Trotzdem ließen sie den Ski- und Aprés-Ski-Betrieb tagelang weiterlaufen: „Eine Übertragung des Corona-Virus auf Gäste von Bars etc. ist aus medizinischer Sicht eher unwahrscheinlich! “. Was für eine Fehleinschätzung.

Frank Ulrich Montgomery @Wikipedia

Am 9. März, einen Tag nach dem italienischen Lock-Down, erwähnte Frau Merkel das Corona-Virus erstmalig vor einem Publikum nur im Abschluss einer deutsch-griechischen Wirtschaftskonferenz in Berlin: „ … ein paar grundsätzliche Bemerkungen über das Corona-Virus … das Virus ist inzwischen auch in unserem Land angekommen und wird sich auch hier weiter ausbreiten. … Das wirksamste Mittel gegen das Virus ist, die Ausbreitung zu verlangsamen … über einen längeren Zeitraum zu strecken … “. Bei 1.139 rasant auf das Zehnfache gestiegen registrierten Fällen in Deutschland wäre es überfällig gewesen, die Maßnahmen bereits zu treffen, die erst am 12. März ausgesprochen worden sind, als 1.892 Infizierte registriert waren. In der Ansprache am 9. März wurde mit dem Satz „der Virus ist inzwischen auch in unserem Land“ vergessen, dass der Patient Null in Deutschland bereits am 20. Januar in Bayern gemeldet wurde, als ein Mann in einer Firma an einem Treffen mit einer Kollegin aus Shanghai teilnahm, die vom 19. bis 22. Januar in Deutschland war.

Es war auch ein erkrankter Mitarbeiter dieser Firma, der unwissend das Corona Virus nach Italien gebracht hat, denn diese bayerische Firma hat ein Büro bei Codogno, ein Städtchen unweit von Mailand, Bergamo und Brescia: die Städte mit den meisten Erkrankten und Toten in Italien (in der Lombardei ca. 12.300 Infizierte bzw. knapp 2.000 Tote am 19.03 um 18:00 Uhr). Die tödliche Übertragung des Virus von Deutschland nach Italien wurde u.a. von Fred Hutchinson Cancer Research Center in Seattle und dem New England Journal of Medicine bestätigt. Mittlerweile hat sich erwiesen, dass das „abwarten“ als die dynamische Virus-Ausbreitung durch Sozialkontakte längst absehbar war, am 9. März nicht die richtige Strategie war. Wie EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Dienstagabend eingeräumt hat, ist das Corona Virus von der deutschen Politik unterschätzt worden. Zögerlich reagieren anstatt Prävention war ein dramatischer Fehler, obwohl es gut gemeint war um Menschen nicht zu alarmieren und in Panik zu versetzen. Aufgrund der spät ergriffenen und noch nicht von der Bevölkerung diszipliniert verfolgten Maßnahmen folgt Deutschland Italien mit knapp zwei Wochen Verzögerung, wo die positiv getesteten 35.713 Menschen 21,5% aller durchgeführten Tests entsprechen (Lombardei 36,2%) und die Sterblichkeitsrate der positiv getesteten Corona-Erkrankten bei 8,3% liegt (Lombardei 11,2%) bzw. 0,18% von allen 165.500 geführten Corona-Tests.

Was nun? Das ist die schwierigste Zeit unserer Gesellschaft seit Ende des zweiten Weltkrieges. Kollektive Solidarität ist gefragt, auch wenn die Einheit Europas faktisch nicht stattfindet. Was jeder von uns tun kann, ist mit gesundem Menschenverstand das Übertragungsrisiko möglichst gering zu halten und Rücksicht aufeinander zu nehmen. Nach wie vor gibt es zu viele Menschen, die immer noch nicht erkennen wie gefährlich der Virus ist und drauf bestehen, ihren Alltag weiter wie bisher zu gestalten und zu leben. Es ist von Soziologen bewiesen, dass viele Menschen in Krisenzeiten zu erheblichen Fehleinschätzungen neigen und sich irrational verhalten. In die Geschichtsbücher Deutschlands wird der Corona-Virus unter anderem mit dem unverständlichen massiven Panikkauf von Toilettenpapier und dem Satz „ich lasse mir die Freude am Leben nicht wegnehmen“ eingehen.

In ihrer Ansprache wiederholte Angela Merkel erneut die beratende Rolle der RKI und Wissenschaft für ihre Entscheidung die Freizeitgestaltung massiv zu reduzieren. Deutschland ist mit 25.000 Beatmungsgeräten, ca. 28.000 Betten auf der Intensivstation und einer Kapazität von ca. 200.000 Viren-Tests medizinisch das am besten ausgerüstete Land in Europa. Mit Quarantäne bzw. reduzierten Sozialkontakten im privaten Bereich schafft Deutschland Zeit um die höchste Anzahl an Infizierten später zu erreichen (d.h. auch weniger Tote), denn ohne die aktuellen Maßnahmen wird die höchste Zahl der Infizierten schneller erreicht (d.h. aber deutlich mehr Tote). Die Aufrechterhaltung des sozialen und wirtschaftlichen Systems bzw. Eingrenzung der Schäden kann also nur durch Solidarität erreicht werden: Weiter das Privatleben wie bisher zu führen wird automatisch eine komplette Ausgangssperre als Konsequenz haben, um die Verbreitung zu stoppen. Je länger die Menschen auf der Straße es nicht verstehen wollen, desto länger dauert es, und Firmen werden deshalb insolvent gehen. Auch wenn der deutsche Staat finanziell stark genug ist, Menschen und Firmen zu unterstützen, ist es ein Armutszeugnis wegen eines Biers mit Freunden das Leben seiner Mitmenschen in Gefahr zu bringen und der Wirtschaft zu schaden.

Fortsetzung nächste Seite