Europa ist zurück auf dem Investment-Radar

In den letzten zehn Jahren stand der Aktienmarkt Europa weitgehend im Schatten der USA. Gibt es jetzt eine Trendumkehr? Von Tilmann Galler*

Zwischen der globalen Finanzkrise und der Corona-Pandemie stieg der S&P 500 mit einer jährlichen Rate von 11% gegenüber 2% Wachstum pro Jahr im MSCI Europe (in USD). Ausschlaggebend waren vor allem deutlich höhere Unternehmensgewinne in den Vereinigten Staaten. Nun lässt sich jedoch seit einiger Zeit eine Trendumkehr beobachten. Genauer gesagt haben sich seit Oktober 2020 europäische Aktien auf breiter Front besser entwickelt als Aktien aus den USA.

Für die Dynamik waren zuletzt vor allem Aufwärtskorrekturen bei den Gewinnerwartungen verantwortlich, nachdem Europa viel besser als befürchtet ohne russisches Gas ausgekommen ist. Aber ist mit Europa auch längerfristig zu rechnen? Unserer Ansicht nach haben sich die mittelfristigen Aussichten für Europa auf struktureller Ebene verbessert. Es ist also sinnvoll, europäische Werte wieder stärker im Portfolio zu berücksichtigen.

Sektorale Struktur sorgte in der letzten Dekade für Gegenwind

Der europäische Aktienmarkt konnte auch in der Vergangenheit schon mit starker Entwicklung überzeugen. So war er beispielsweise in der Zeit nach dem Dotcom-Boom der Renditetreiber unter den entwickelten Märkten. Von 2003 bis 2007 verzeichnete der MSCI Europe eine annualisierte Kursrendite von nahezu 20%, beinahe doppelt so viel wie der S&P 500. Parallel wuchsen die nachlaufenden Gewinne im Durchschnitt um 26% pro Jahr, was wiederum fast doppelt so hoch war wie das Gewinnwachstum des S&P 500.

Foto: © bluedesign – stock.adobe.com

Im Zuge der globalen Finanzkrise taumelte die Eurozone jedoch direkt in ihre eigene Staatsschuldenkrise, die eine lange Phase restriktiver öffentlicher Finanzhaushalte auslöste. Das Ausmaß der fiskalischen Zurückhaltung bei Investitionen, Beschäftigung und Gehältern im öffentlichen Sektor war dramatisch.

Unter dem daraus folgenden niedrigen Wachstum in Verbindung mit dem Nullzinsumfeld litten zahlreiche Sektoren, die in den europäischen Benchmarks überdurchschnittlich stark vertreten sind. Die sektorale Zusammensetzung der europäischen Aktienindizes tendiert zu Finanzwerten, Energie, Industrie und Bergbau. Die Eigenkapitalrenditen der Banken brachen aber beispielsweise in Folge der Negativzinsen zur Bekämpfung von Deflationsrisiken ein. Technologiewerte, für die Anlegerinnen und Anleger weltweit zur Zahlung eines immer höheren Aufschlags bereit waren, fand man in den europäischen Indizes dagegen nur wenige.

Veränderte Situation dank struktureller Änderungen und gemeinsamer EU-Programme

Mit strukturellen Veränderungen wie der EU-Reform des institutionellen Rahmens wurde der Weg für die gemeinsame Emission von Schuldtiteln etwa zur Projektfinanzierung freigemacht. Dies hat mittelfristig erhebliche Veränderungen für die wirtschaftliche Rolle der Finanzpolitik bewirkt. Ein Beispiel ist der Aufbauplan (NextGenerationEU), mit dem Mitgliedstaaten Geld für Investitionsprojekte zur Verfügung gestellt wird, wenn sie bestimmte Strukturreformen durchführen. […]

Rentenmärkte haben bereits reagiert, Aktienmärkte noch mit Abschlag

Die Anleihemärkte scheinen sich nach seiner Analyse einig zu sein, dass sich die Eurozone aus ihrem Trott mit geringem Wachstum und niedriger Inflation befreit hat. Die 5jährigen Euro-Inflations- und Zinsswaps haben zum ersten Mal seit mehreren Jahren zu den Werten in den USA aufgeschlossen, und die mittelfristigen Zinserwartungen für den Einlagensatz der EZB haben sich auf einem Niveau eingependelt, das seit der Finanzkrise nicht mehr erreicht wurde. […]

Tilmann Galler, J.P. Morgan AM

Abgesehen von Value böten auch die Luxusgüterunternehmen des Kontinents sowie die steuerlich geförderten Klimatechnik- und Halbleiterunternehmen Anlagechancen. Unserer Ansicht nach hat es in Europa strukturelle Verbesserungen gegeben. Die Pandemie und die Energiekrise haben die Staats- und Regierungschefs der Region aufgerüttelt und einer langen Periode strenger Sparmaßnahmen und negativer Zinssätze ein Ende gesetzt. Dies dürfte mittelfristig die nominalen Gewinne in Europa in einer Weise stützen, die in den derzeitigen Bewertungen noch nicht berücksichtigt werden.

*) Tilmann Galler ist Executive Director und Kapitalmarktstratege bei J.P. Morgan Asset Management

————————

! NEU ! Die erste BondGuide Jahresausgabe 2023 ist erschienen: Green & Sustainable Finance 2023 (4. Jg.) kann wie gewohnt kostenlos als e-Magazin oder pdf heruntergeladen werden.

Die Ausgabe 3/2022 Biotechnologie 2022 der Plattform Life Sciences ist erschienen. Die Ausgabe kann bequem als e-Magazin oder pdf durchgeblättert oder heruntergeladen werden.

Bitte nutzen Sie für Fragen und Meinungen Twitter – damit die gesamte Community davon profitiert. Verfolgen Sie alle Diskussionen & News zeitnaher auf 
Twitter@bondguide !